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„Potenzial für soziale Verwerfungen“

Gabriele Halder setzt sich für einen selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruch ein. Die Gynäkologin über den Notdienst in ihrer Praxis und ungewöhnlich viele Früh-Schwangerschaften in Zeiten der Coronakrise

Gabriele Halder arbeitet als Gynäkologin Foto: Plutonia Plarre

Protokoll von Plutonia Plarre

Die Liebe hat in Zeiten von Corona bisher noch keine Einbrüche gezeigt. Im Gegenteil. In unserer Frauenärztinnenpraxis haben wir ungewöhnliche viele Früh-Schwangerschaften, die alle in der Corona-Anfangszeit entstanden sind. Wenn Menschen „paniken“, nehmen sie eher Abstand voneinander, das scheint noch nicht der Fall zu sein.

Ich höre immer den Christian Drosten – den täglichen Podcast des Charité-Virologen von NDR-Info. Anfangs haben ihm Leute vorgeworfen, Panik zu schüren. Die Zahlen geben ihm recht; sie sind sogar noch schneller hochgegangen als erwartet.

Wir müssen gegensteuern. Für mein Empfinden gehen die Leute immer noch viel zu unbefangen miteinander um. Es ist überhaupt keine Vorstellung von exponentiellem Wachstum vorhanden. Wenn ich sie anspreche, bekomme ich zur Antwort: Hab dich nicht so! Das betrifft Mitarbeiterinnen unserer Frauenärztinnenpraxis genauso wie Leute in meiner Wohngemeinschaft. Da herrscht ganz offenbar die Denke vor: Mir passiert doch nichts.

Meine eigene Quarantäne

In meiner WG habe ich mich jetzt in mein Zimmer zurückgezogen. Ich gehe nur noch raus, wenn ich zur Arbeit muss. Ich begebe mich sozusagen in meine eigene Quarantäne.

In der Praxis bieten wir weiterhin einen Notdienst an: Um unsere Schwangeren zu versorgen und um Spiralen zur Empfängnisverhütung zu legen. Das gehört zur Daseinsvorsorge.

Sofern wir in Berlin eine richtige Ausgangssperre bekommen, ist davon auszugehen, dass die häusliche Gewalt um das Dreifache steigt. China hat das gezeigt. Die häusliche Nähe, die wir durch die Aufenthaltsbeschränkungen haben, wird auch dazu führen, dass jetzt mehr Frauen unerwünscht schwanger werden. Die Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen haben aber teilweise dichtgemacht. Für die Frauen könnte das zu einem großen Problem werden.

Wie in anderen Bereichen in Zeiten von Corona wäre es auch hier wichtig, zu einem vereinfachten Verfahren für den Schwangerschaftsabbruch zu kommen. Das heißt, dass die betroffenen Frauen ohne persönliche Vor­stellung zu einem Beratungsgespräch die gesetzlich erforderliche Bescheinigung für einen Abbruch bekommen. Wie Studien gezeigt haben, ist die Beratungspflicht ohnehin überflüssig. Frankreich und Belgien haben sie deshalb ersatzlos abgeschafft.

Im Zentrum für sexuelle Gesundheit, in dem ich auch mitarbeite, sind Desinfektionsmittel und Klopapier geklaut worden. Corona hat offenbar das Potenzial für soziale Verwerfungen. Dass gesellschaftliche Spielregeln außer Kraft gesetzt werden, das habe ich bisher nur einmal in meinem Leben erlebt: nach der Maueröffnung.

Bei den ersten Nachrichten und Bildern aus China habe ich noch gedacht, unglaublich, aber ganz weit weg. Und nun müssen sich ganz nahe Verwandte wie die Italiener auf einmal mit der Triage auseinandersetzen. Zwischen lohnendem und nicht mehr lohnendem Leben unterscheiden zu müssen ist das Schlimmste, was einer Ärztin oder einem Arzt passieren kann.

Deshalb ist meine Sorge, bloß funktionsfähig zu bleiben, für den Fall, dass ich in einem der Krankenhäuser gebraucht werde. Dafür opfere ich gern meine sozialen Kontakte und bleibe auf Distanz.

Zur Person:

Gabriele Halder arbeitetet seit 1981 als Gynäkologin. Sie setzt sich für einen selbstbestimmten, hürdenfreien und krankenkassenbezahlten Schwangerschaftsabbruch ein. Ihre Praxis befindet sich in Wilmersdorf. Sie hat drei Kinder.

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