: Erzwungene Nähe gefährdet Babys
Trotz weiterer Proteste vor der Erstaufnahmestätte Lindenstraße wird die Einrichtung wohl nicht schließen. Einige Bewohner*innen dürfen umziehen – doch noch 450 leben auf engem Raum
Anja Stahmann (Grüne)
Von Lotta Drügemöller
„Save our Babies“, rufen Frauen mit Babys im Tragetuch auf dem Rücken, und: „Lindenstraße – shut it down!“ Die Videos von „Together we are Bremen“ in den sozialen Netzwerken zeigen den jüngsten Protest gegen die volle Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in Bremen-Nord. Bis zu 300 Demonstrierende hatten sich dem Aufruf von mehreren Schwangeren und Müttern mit Neugeborenen angeschlossen, die sich Sorgen um die Gesundheit ihrer Kinder machen.
450 Geflüchtete leben auch drei Wochen nach den ersten Protesten in der Einrichtung, Einzelpersonen sind dabei laut Behörde meist zu zweit oder dritt in einem Raum untergebracht, Familien mit bis zu sieben Personen. Der Flüchtlingsrat redet von Vier- bis Acht-Personen-Zimmern.
Mit einer Schließung der Einrichtung ist trotz Corona so bald wohl nicht zu rechnen. Dafür mit Strafanzeigen: Die Polizei nahm die Demonstrierenden per Video auf. Man werde, so eine Pressemitteilung, ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Infektionsschutzgesetz einleiten; schließlich hätten nicht alle Demonstrierenden den Mindestabstand eingehalten. Schon vergangene Woche hatten Protestierende hier mehrere Strafanzeigen bekommen.
Für die Demonstrant*innen ist das laut Gundula Oerter vom Flüchtlingsrat wie ein Hohn: Schließlich hätten sie in ihren Zimmern gar nicht die Möglichkeit, 1,5 Meter Distanz zu halten.
Solidarität für die Proteste kam dieses Mal auch von eher unerwarteter Seite: Der Bremer Zusammenschluss der Wach- und Sicherheitsbranche (Wasi) bei der Gewerkschaft Ver.di hat sich ebenfalls für die Schließung der Einrichtung in der Lindenstraße ausgesprochen. Schon zu normalen Zeiten sei die Wohnsituation nicht würdig, heißt es in einer Mitteilung. „Mit dem Corona Virus ist das umso gefährlicher.“ Man sehe sich zudem „in der Sache als gemeinsam Betroffene“: Schließlich würden auch die Kolleg*innen, die in der Aufnahmestelle arbeiten, derzeit einer unnötigen Gefahr ausgesetzt. Die Stellen der Sozialarbeiter*innen vor Ort dürften natürlich nicht in Gefahr geraten.
In der Vergangenheit hatte es auch Proteste der Bewohner*innen gegen die Sicherheitsdienste gegeben, deren Mitarbeiter*innen sich teilweise rassistisch und übergriffig verhalten haben sollen. Laut Gewerkschaftssekretär Nils Wolpmann war das für die Wasi-Vertreter*innen kein Grund, sich nicht zu solidarisieren. „Sie gehörten auch damals zu denen, die froh waren, dass auf den Rassismus hingewiesen wurde.“
Oerter freut sich über die Unterstützung. „Das alles, jede Demonstration, jeder Bericht, erhöhen den Druck auf die Sozialbehörde endlich für menschenwürdige Unterbringung zu sorgen“, sagt sie. Die wiederum gibt sich machtlos: „Bremen ist durch Bundesrecht verpflichtet, eine Erstaufnahmeeinrichtung zu betreiben“, heißt es vom Sprecher der Sozialbehörde, Bernd Schneider. Und Sozialsenatorin Anja Stahmann (Grüne) antwortet via Twitter auf einen Ver.di-Tweet: „Ein Bundesland ohne Ankunftszentrum für Asylsuchende funktioniert nicht. Vor allem bei gleichzeitiger Forderung Geflüchtete sofort aufzunehmen. Bitte selber nachdenken.“
Für Oerter ist das nicht nur im Tonfall falsch: „Die Sozialsenatorin will uns hier missverstehen.“ Natürlich gehe es nicht darum, keine weiteren Flüchtlinge aufzunehmen oder entgegen des Bundesgesetzes keine Erstaufnahme mehr anzubieten. „Aber nirgendwo schreibt ein Gesetz vor, dass dort fast 500 Menschen auf engem Raum leben müssen.“ Die Ausgestaltung könne Bremen sehr wohl anders handhaben.
Wie viel Spielraum genau Bremen bei der Unterbringung hat, das ist für Behördensprecher Schneider fraglich. Kann die Jugendherberge, in der aktuell schon Geflüchtete aus der Zentralen Aufnahmestelle (Zast) leben, als Zweigstelle der Erstaufnahmeeinrichtung gelten? Eventuell, vielleicht, wer weiß. Ob man mit dem weiteren Betreiben in rechtlichen Dissens zur eigenen Allgemeinverfügung kommt, ist ebenfalls nicht klar. Der Flüchtlingsrat zumindest hat die Sozialbehörde genau darauf verklagt.
Man bemühe sich, so Schneider, „besonders schützenswerte Personen in anderen Einrichtungen unterzubringen und die Belegungsdichte der Erstaufnahme kontinuierlich zu vermindern“. Bremen nutze dabei den rechtlichen Spielraum aus. Waren vor einer Woche noch 600 Bewohner*innen in der Lindenstraße, sind es laut Sozialbehörde nun nur noch 450. Nach und nach also werde das Heim evakuiert, „allerdings im Schneckentempo“, kritisiert Oerter.
Das Argument der Sozialbehörde, durch eine Schließung würden fast 200 Zimmer wegfallen, die „weder auf dem Wohnungsmarkt noch im Unterbringungssystem für Geflüchtete ersetzt werden könnten“, hält Oerter für Unsinn. „100 Prozent der Hotelzimmer stehen frei“, sagt sie. Tatsächlich hat es Angebote von Hotels gegeben. Die allerdings wurden laut Schneider zurückgezogen.
Bleibt zu hoffen, dass der erste Infizierte in der Einrichtung tatsächlich so gut isoliert ist, wie die Behörde behauptet. Nicht nur für die Einrichtung selbst, sondern auch, weil von dort weiterhin Geflüchtete auf andere Länder verteilt werden. „Die Kapazität der Erstaufnahme reicht nicht aus, das Verfahren auszusetzen“, heißt es dazu.
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