: „Es fehlendie Lernorte“
Viele Schüler können zu Hause kaum lernen. Homeschooling verstärke Benachteiligung, sagt eine Lehrerin
Interview Anna Klöpper
taz: Frau S., Sie sind Lehrerin an einer Sekundarschule in Neukölln. Seit Dienstag sind Schulen und Kitas geschlossen, jetzt soll – theoretisch – die große Stunde des E-Schooling schlagen. Wenn Sie auf Ihre Schule schauen: Wird das funktionieren?
S.: Wir werden Lernunterlagen und Arbeitsblätter per Post verschicken. Beim Thema E-Learning kommen wir ganz schnell an technische Grenzen: Unsere Schüler*innen haben zwar Handys, aber gerade in der Mittelstufe haben die wenigsten einen PC, ein Tablet oder einen Drucker zu Hause. Einen Arbeitsbogen auf einem kleinen Handydisplay zu lesen ist aber schwierig. Deswegen schicken wir die Lernpakete per Post.
Wie diszipliniert werden Ihre Schüler*innen zu Hause arbeiten können?
Es wird sein wie in der Schule: Einige werden fleißig sein, andere werden das nicht so ernst nehmen. Tatsächlich wird das Lernenkönnen für viele ein Problem werden: Es fehlen ganz einfach Lernorte. Viele meiner Jugendlichen haben fünf, sechs jüngere Geschwister zu Hause, die verstehen nicht unbedingt, warum sie jetzt leise sein sollen. Ein Schüler hat mir neulich eine Audio-Nachricht aus seinem Wohnzimmer geschickt: Da war an Lernen definitiv nicht zu denken.
Es stehen Prüfungen zum – verschobenen – Mittleren Schulabschluss und Abitur an.
Ja, das macht es noch mal schwieriger, und es wird die Chancenungleichheit – die einen haben die nötigen Ressourcen, die anderen weniger – verschärfen. Zumal jetzt auch Lernorte fehlen wie die öffentlichen Bibliotheken, an denen sich sonst viele gerne zum Lernen getroffen haben.
Haben Sie die Eltern informiert, wie wichtig es jetzt ist, die Kinder zu unterstützen?
Ich habe meine Eltern letzte Woche abtelefoniert und auch einen Brief mit ins Lernpaket gelegt. Gut ist, dass wir hier an der Schule schon länger unsere Handynummern herausgegeben haben, obwohl wir keine Diensthandys haben. Ich muss als Lehrerin jetzt auch viel beruhigen und erklären.
Wie reagieren die Kinder? Äußern sie Ängste und Sorgen angesichts der Omnipräsenz des Themas und der öffentlichen Einschränkungen?
Klar, die Kids haben unglaublich viele Fragen. Ich tausche mich schon seit letzter Woche viel über Nachrichtendienste mit ihnen aus, Telegram dürfen wir ja zum Beispiel benutzen, weil die Server in Europa stehen und nicht wie bei WhatsApp in den USA. Ich merke, wie wichtig das für sie ist, dass ich als Lehrerin jetzt Ruhe ausstrahle. Und unabhängig davon, wie viel sie im Einzelnen jetzt mitnehmen werden vom Unterrichtsstoff: Allein, dass es Struktur und Beschäftigung gibt in den nächsten Wochen, ist wichtig.
Wie ist denn die Struktur: Die Kinder bekommen das Lernpaket – bekommen sie dann auch Unterstützung oder werden die Aufgaben kontrolliert? Oder sehen sich dann alle in fünf Wochen wieder?
Wir werden Telefonkonferenzen mit Kleingruppen von SchülerInnen einrichten – und dann jeden Tag oder jeden zweiten Tag telefonieren. Ihre Lösungen sollen die Schülerinnen und Schüler per Mail schicken, ich schicke die korrigierten Lösungen zurück. Wer keine andere Möglichkeit hat, macht mit dem Handy ein Foto vom Arbeitsblatt und schickt es mir per Nachrichtendienst. Aber es wird eine Herausforderung – Nachfragen, Rückfragen, wie das normalerweise in einer Unterrichtsstunde läuft, das ist ja alles nicht möglich. Und klar: Da sind auch wieder die im Vorteil, die zu Hause jemanden haben, den sie fragen können.
Die Prüfungen zum MSA wurden schon um zwei Wochen nach hinten verschoben. Macht es nicht Sinn, die Vergabe von Noten jetzt auszusetzen – gerade mit Blick auf die unterschiedlichen Chancen, die Jugendliche in dieser Situation haben?
Unsere Schüler hier haben immer einen Lernnachteil, das ist so. Aber ja, ich hoffe, dass die Verwaltung jetzt über Entlastungsmaßnahmen nachdenkt: zum Beispiel, ob man Zeugnisse aussetzen kann, Prüfungen erst nach dem Sommer schreibt, aber trotzdem schon eine Ausbildung beginnen darf.
Frau S. lehrt an einer Sekundarschule mit Oberstufe in Neukölln. Sie möchte, auch zum Schutze ihrer SchülerInnen, anonym bleiben.
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