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Sprungbrett Pankow

taz-Serie Wahlkreisduelle (Teil 1): Um das Bundestagsmandat in Pankow bewerben sich vier politische Schwergewichte: Wolfgang Thierse, Werner Schulz, Günter Nooke und Stefan Liebich. Ihnen geht es um die große Politik, nicht um den Bezirk

Die Wahlkreisduelle Selten war der Kampf um Bundestags-Direktmandate in Berlin so spannend wie in diesem Jahr. 2002 gewann die SPD neun, die PDS zwei und die Grünen einen Wahlkreis. Es ist unwahrscheinlich, dass die Sozialdemokraten dieses Ergebnis wiederholen. Die Union hat laut Umfragen zugelegt, auch die PDS besitzt gute Chancen, zusätzliche Mandate zu gewinnen. Die taz beobachtet jede Woche ein besonders spannendes Duell

Von Matthias Lohre

Ausgerechnet in Pankow könnte die Geschichte der DDR-Bürgerrechtler ihr Ende finden. Ausgerechnet in dem Berliner Bezirk, wo die Brüche der deutsch-deutschen Geschichte seit der Wende 1989 wie in keinem anderen hervortreten. Hier stehen sich drei Männer gegenüber, die das Selbstverständnis des wiedervereinigten Deutschlands mit geprägt haben. Deshalb geht es in diesem Wettstreit nicht nur um eines von bundesweit 299 Direktmandaten. Es geht um die künftige Rolle der ehemaligen Bürgerrechtler. Und um die Frage, welche Fragen den WählerInnen heute wirklich wichtig sind. Am Ende könnte allerdings ein Vierter der Gewinner dieses Kampfes sein.

Im einwohnerstärksten Stadtbezirk treten drei ehemalige Größen ihrer Parteien an: Wolfgang Thierse (SPD), Werner Schulz (Bündnis 90/Grüne) und Günter Nooke (CDU). Sie alle sitzen bereits seit Jahren im Bundestag. Der einzige neue Bewerber ist der 32-jährige PDS-Landeschef Stefan Liebich. Alle vier sind in der DDR aufgewachsen.

Am bekanntesten von ihnen ist Thierse. Die Spitzenkandidatur auf der SPD-Landesliste sichert dem Bundestagspräsidenten zwar den Wiedereinzug in den Bundestag. Aber das zweithöchste Staatsamt wird der 61-Jährige nach der Wahl am 18. September höchstwahrscheinlich an eine(n) Unions-VertreterIn abtreten müssen. Thierses Abgang ist ein Abgang auf Raten – und er weiß es.

Es regnet an diesem Julitag in Berlin. Die Stimmung unter den zwölf SPD-DirektkandidatInnen ist schlecht, und das trübe Wetter macht es nicht gerade besser. Vor der wolkenverhangenen Kulisse des Brandenburger Tors posieren sie für die Fotografen. Die SPDlerInnen kennen die Prognosen: Nur zwei von ihnen werden demnach im Herbst mit einem Direktmandat in den 16. Deutschen Bundestag einziehen. Einer davon ist Wolfgang Thierse. Zwischen den klickenden Kameras gibt sich der Staatsrepräsentant leutselig. Was leisten Sie für Ihren Wahlbezirk, Herr Thierse? Die Frage scheint den Mann, der seit 1972 in Prenzlauer Berg wohnt, zu überraschen: „Ich bin kein Lokalpolitiker, sondern leite Bürgeranliegen an Lokalpolitiker weiter. Denen sage ich, kümmert euch.“ Ist es also nur ein Zufall, dass der 61-Jährige in Pankow kandidiert? Sind die ungezählten Berichte über den volksnahen Parlamentsvorsteher, der bis heute seine Wohnung am Kollwitzplatz einer schicken Dienstvilla vorzieht, nur Show?

„Mein Schicksal hängt von den Grünen ab“, sagt Wolfgang Thierse

Das war dann doch zu viel Unverblümtheit. Thierse rudert zurück. Er stehe ja auch regelmäßig freitags und sonnabends am Parteistand. Mehr Menschen erreicht er jedoch seit dem Jahr 2002 bei seiner Veranstaltungsreihe „Thierse trifft“. Eine Art Talk vor Publikum, aber ohne Fernsehkameras. Thierse schärft damit auch sein Image als „gesamtdeutscher Ossi“ (Thierse über Thierse). Das kommt an in den Kiezen des vielschichtigen Wahlkreises.

Erst die Bezirksreform im Jahre 2001 verknüpfte die sehr unterschiedlichen Altbezirke Pankow, Weißensee und Prenzlauer Berg zum 340.000 Einwohner starken Gebilde im Nordosten. Wer hier abstimmt, ist in vielen Fällen froh, den hiesigen Direktkandidaten überhaupt zu kennen. Immerhin sind 30 Prozent der PankowerInnen seit der Wende zugezogen, schätzt Thierse. Vor allem sie wählten ihn im Jahr 2002 (siehe Text unten). Das weiß der Bundestagspräsident sehr genau. „Mein Schicksal hängt von den Grünen ab“, sagt er mit Blick auf die rot-grüne Wählerschaft – und auf Werner Schulz.

Vor drei Jahren machten Thierse und der Grünen-Kandidat Schulz noch gemeinsam Bundestagswahlkampf: Erststimme Thierse, Zweitstimme Grüne war ihre Botschaft. Gemeinsam taten sie alles, um ein drittes Direktmandat für die PDS und damit deren Bundestagseinzug in Fraktionsstärke zu verhindern. Der Plan ging auf. Doch diesmal kann sich Schulz keine taktischen Manöver leisten.

Nach 15 Jahren im Bundestag kämpft er um sein politisches Überleben. Sein Landesverband hat ihn bei den Wahlen für einen aussichtsreichen Listenplatz durchfallen lassen. Das Etikett „Bürgerrechtler“ ebnet auch bei den Grünen nicht mehr den Weg unter die Reichstagskuppel. Da bringt es nichts, dass sich Schulz schon seit 1982 im Friedenskreis der Kirche in Pankow engagierte, lange vor anderen so genannten Bürgerrechtlern. Nur ein Direktmandat nach dem Vorbild Christian Ströbeles in Friedrichshain-Kreuzberg kann Schulz vor der völligen Isolation in seiner Partei retten. Doch danach sieht es nicht aus.

Zwar hat seine furiose Fünfminutenrede gegen das „absurde Geschehen“ namens Vertrauensfrage des Bundeskanzlers Anfang Juli bundesweit für Aufruhr gesorgt. Doch in ausreichend Wählerstimmen wird sich diese Empörung am 18. September nicht gießen lassen. Pankow ist nicht Friedrichshain-Kreuzberg. Und selbst innerhalb seines kleinen Kreisverbands ist Schulz umstritten.

Der Überlebenskampf des Werner Schulz wird Wolfgang Thierse vielleicht das sicher geglaubte Direktmandat kosten. Zwar hat der Bundestagspräsident in den Prognosen noch die Nase vorn. Doch die mangelnde Grünen-Unterstützung und der bundesweite Erfolg der umbenannten PDS können seinen Wahlsieg noch vereiteln. Die Euphorie um die „Linkspartei“ könnte den Landesvorsitzenden Stefan Liebich ohne großes eigenes Zutun in den Bundestag hieven. Thierses Mandat erschiene in diesem Fall wie eine Episode. Vor elf Jahren unterlag er im damaligen Wahlbezirk Mitte-Prenzlauer Berg der von der PDS aufgestellten Schriftstellerlegende Stefan Heym. Vier Jahre später, 1998, zog Petra Pau für die Sozialisten in den Bundestag ein. Auf die PDS-StammwählerInnen in den Bezirksteilen Pankow und Weißensee war Verlass. Im September könnten sie wieder die Entscheidung bringen.

Fast verloren steht bei diesem Ringen CDU-Kandidat Günter Nooke da. Nicht zum ersten Mal verläuft die politische Karriere des 46-Jährigen parallel zu der des neun Jahre älteren Werner Schulz. In sechs Wochen werden sie wohl parallel enden. Beide waren noch vor drei Jahren Spitzenkandidaten ihrer Parteien in Berlin, heute sind sie unerwünscht. Beide gelten – charmant formuliert – als eigenbrötlerisch. Weniger freundlich gesagt, halten viele Parteifreunde sie für unberechenbar und ohne Lust an Kärrnerarbeit an der Parteibasis. Beide trafen sich 1990 am Runden Tisch: Schulz als Vertreter des Neuen Forums, Nooke kam vom Demokratischen Aufbruch (DA).

Doch auch eine lupenreine Ostbiografie wird den Kulturexperten im durch und durch links geprägten Pankow nicht retten. Ein Unions-Kandidat hat hier keine Chance. Selbst wenn der bis 1994 für Bündnis 90 im Brandenburger Landtag saß und erst vor neun Jahren in die CDU eingetreten ist.

Am Ende heißt das Duell: der Parteisoldat gegen den Spätberufenen

Je näher der Wahltag rückt, desto klarer wird aus dem Vierkampf ein Duell zwischen Thierse und Liebich, dem ältesten und dem jüngsten Kandidaten. Während der eine erst mit 46 Jahren in die Parteipolitik fand, trat der andere an seinem 18. Geburtstag in die erst wenige Monate zuvor in PDS umbenannte Ex-SED ein. Bereits vier Jahre später gelang dem gebürtigen Marzahner der Sprung ins Abgeordnetenhaus, mit gerade 29 Jahren wurde der Betriebswirt Landeschef der Hauptstadt-PDS.

Liebich ist so gesehen der Gegenentwurf zu seinen Konkurrenten, die sich in ihren Parteien nie ganz eingelebt haben und deren Ränkespiele bis heute nicht richtig beherrschen. Liebich hingegen ist Kind seiner Partei und spiegelt deren Widersprüche: Durchaus freundlich im Umgang, lenkt er doch eine auf Gehorsam ausgerichtete Kaderpartei. Wortreich kann er eigentlich Unvereinbares zusammenzwingen, etwa die Kooperation mit der WASG auf Bundesebene mit der Ablehnung der Wahlalternative in Berlin.

Im Bundestag gäbe der jungenhafte Liebich das Bild vom netten Linken, an dem das Etikett des dogmatischen Umstürzlers nicht haften will. Seine WASG-KollegInnen jedoch würden auf ihn mit Misstrauen blicken, hat er ihnen doch in der Hauptstadt bislang kategorisch aussichtsreiche Listenplätze verweigert. Und noch etwas unterscheidet den einzig Glattrasierten von seinen bärtigen Konkurrenten: Der PDS-Mann fiele bei einer Niederlage weich; im Rücken weiß er seine Posten als Partei- und Fraktionschef.

Wen auch immer die WählerInnen am 18. September mit ihrer Erststimme zum Gewinner küren werden: Ein klassischer Repräsentant ihres Bezirks wird er nicht sein. Dazu stehen den drei Bundes- und dem einen Landespolitiker andere Inhalte vor Augen. Es geht ihnen ums große Ganze – die Folgen der Wiedervereinigung, die Zukunft der Zivilgesellschaft oder die Einheit der Linken. Aber nicht um Pankow.

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