Nach dem rassistischen Attentat in Hanau: Vergebliches Erinnern

Deutschland braucht eine Debatte über Rechtsterrorismus. Stattdessen reden Konservative seit Wochen darüber, wie linksextrem Bodo Ramelow sei.

Demonstration gegen rechten Terror mit einem Plakat, auf dem unter dem Wort Einzelfall eine Strichliste abgebildet ist.

Wer oder was bedroht unsere Gesellschaft tatsächlich? Foto: Markus Kirchgessner

Das rassistische Massaker von Hanau hat gezeigt, dass es in Deutschland eine riesengroße Kluft gibt: zwischen Realität und Diskurs, Problem und Projektion, Bedrohung und Wahrnehmung. Kassel, Halle, Hanau. Orte, an denen sich diese Realität in jüngster Vergangenheit blutig manifestiert hat. Die Liste, und das wissen alle, ist noch viel länger. Nach jedem Anschlag zählen wir diese Orte auf, erzählen die Geschichten der Opfer, erinnern an sie. Aber wofür?

Zuallererst natürlich für die Opfer und für nichts und niemand anderen sonst. Dann dafür, dass sich Taten wie diese nicht wiederholen, Verantwortungsträger dafür alles in ihrer Macht Stehende unternehmen. Wir tun das, um die Gesellschaft – vor allem jene, die selbst nicht bedroht sind – für die allgegenwärtige Möglichkeit des Massakers zu sensibilisieren, für die Worte, die dem Massaker vorgelagert sind.

Wir tun das, damit diese Gesellschaft, ihre Öffentlichkeit, ihre gewählten Vertreter und Behörden dementsprechend Prioritäten setzen: Wer oder was bedroht unsere Gesellschaft tatsächlich? Und was können wir dagegen tun?

Hanau zeigt nun aber, wie vergeblich dieses Zählen, Erzählen und Erinnern ist. Viereinhalb Monate sind seit Halle vergangen, nur wenige Tage seitdem zwölf mutmaßliche Rechtsterroristen festgenommen wurden, die mit Anschlägen auf muslimische Einrichtungen einen Bürgerkrieg entfachen wollten. Eigentlich sollte eine breite Debatte über Rechtsterrorismus den endlichen Raum des öffentlichen Diskurses füllen. Die deutsche Gesellschaft, ihre Journalisten und Politiker setzen aber andere Prioritäten: Seit Wochen diskutiert das Land über eine Regierungskrise, die eigentlich keine Regierungskrise sein dürfte.

Konservative zerbrechen sich den Kopf darüber, wie linksextrem ein staatsmännischer Bodo Ramelow denn sei. Sie schaffen es nicht, die Ungewissheit gemeinsam mit ihm zu beenden. Sie halten an ihrem Hufeisen fest. Auch der große Aufschrei darüber, dass Konservative und Liberale mit rechtsextremen Stimmen den Kandidaten der FDP zum kurzzeitigen Ministerpräsidenten gewählt haben, führte bisher nicht zur Klärung.

Diese Parteien und jene, die ihre Diskussionen priorisieren, sind das beste Beispiel für die oben genannte Kluft. Es ist diese Gleichzeitigkeit von Thüringen und Hanau, die den rassistischen Anschlag besonders unerträglich und sprachlos macht. Wir werden trotzdem weiter zählen, erzählen, ­erinnern. Was anderes bleibt uns nicht übrig.

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Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.

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