Lesung in der Justizvollzugsanstalt: Lebensweisheiten für Häftlinge
Der Drogerieunternehmer Dirk Roßmann und der Kriminologe Christian Pfeiffer haben in der JVA Sehnde aus ihren Büchern gelesen.
Eigentlich eingebrockt hat dem schimpfenden Schließer das Ganze Dirk Roßmann. Der millionenschwere Drogerieketten-Inhaber hat einen Hang zu hemdsärmeligen Hilfsaktionen. Davon berichtet er auch in seiner Autobiographie „…dann bin ich auf den Baum geklettert! Von Aufstieg, Mut und Wandel“. Aus genau der möchte er hier heute in der JVA Sehnde lesen. Weil er sich gedacht hat, das wäre doch mal interessant, wie er später in der Veranstaltung sagen wird. Und dann hat er seinen guten Freund Christian angerufen.
Christian Pfeiffer, der bekannte Kriminologe und Ex-Justizminister, kennt sich hier aus. Und er hat ebenfalls gerade ein Buch geschrieben: „Gegen die Gewalt. Warum Liebe und Gerechtigkeit unsere besten Waffen sind“, heißt das. Aus dem soll auch gelesen werden.
Die JVA Sehnde ist die größte und modernste Haftanstalt Niedersachsens. Sie wurde 2004 in Betrieb genommen und bietet Platz für 534 männliche Gefangene. Etwas mehr als 30 von ihnen sind zu der Lesung gekommen, wie Roßmann mit leiser Enttäuschung bemerkt. Dazu kommen noch einmal so viele Bedienstete und ehrenamtliche Mitglieder des Fördervereins. Sie alle finden sich in einem Mehrzweck-Veranstaltungsraum ein, in dem sonst auch Gottesdienste gefeiert werden.
Dirk Roßmann, 73 Jahre, Begründer und Inhaber der Drogeriekette Rossmann, mit über 4.000 Filialen in Deutschland und im europäischen Ausland. Der gebürtige Hannoveraner hat 1972 seinen ersten Selbstbedienungs-Drogeriemarkt aufgemacht – nachdem der gesetzlich vorgeschriebene Festpreis für Drogerieprodukte gefallen war. Daraus wurde eine ganze Kette, die in den Neunzigerjahren allerdings auch schon einmal kurz vor der Pleite stand. Heute ist sie wieder profitabel und die zweitgrößte in Deutschland.
Christian Pfeiffer, 75 Jahre, war von 1988 bis 2015 Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KfN) in Hannover und als solcher gefragter Experte und Interviewpartner in vielen Medien. Er unterbrach seine Leitungstätigkeit von 2000 bis 2003 um als niedersächsischer Justizminister für die SPD zu amtieren.
Dass es so wenige Gefangene sind, erklärt Marianne Schmidt vom Veranstalter-Team damit, dass eben etliche Insassen gar nicht genug Deutsch könnten, um einer Lesung zu folgen. Bei anderen kollidiere der Termin unter Umständen mit länger vereinbarten Besuchen oder der festgelegten Freistunde im Hof, auf die ungern verzichtet wird. Wer teilnehmen will, muss das wie jede andere Freizeitaktivität auch mit einem Formular beantragen. Dann wird überprüft, ob es Sicherheitsbedenken gibt.
Die als unbedenklich eingestuften Teilnehmer dürfen sich zuerst ein Kapitel aus Dirk Roßmanns Biographie anhören. Darin beschreibt er, wie er 1990/91 einen Hilfskonvoi nach Moskau organisiert habe, weil ihn die Medienberichte über hungernde Menschen im zusammengebrochenen Sowjetreich aufgeschreckt hätten. Eine ähnliche Aktion hat er schon zwei Jahre zuvor unternommen: Damals schaffte er haufenweise Spiegel-Ausgaben zu den Montagsdemonstrationen, weil es ihn ärgerte, dass Neonazis dort Propagandamaterial verteilten, die Einfuhr von Westmedien aber noch nicht erlaubt war.
Solche Aktionen sind nicht untypisch für Roßmann, der einerseits eine gewaltige Unternehmerkarriere hingelegt hat, für die es wohl schon ein wenig Umsicht braucht – der sich aber auch gern inszeniert als impulsiver Bauchmensch, der „einfach mal macht“, ohne sich mit allzu vielen Vorkenntnissen zu belasten.
So ist er ganz offensichtlich auch in diese JVA gestolpert: Er habe ja gar nicht gewusst, sagt er in der Fragerunde mit dem Publikum, dass es hier so viele Betriebe und Werkstätten gebe. Und dass die Gefangenen tatsächlich acht Stunden am Tag arbeiten müssten. Da hätte er ja gleich mal gefragt, was man da so verdient – und gelernt, dass das ja nicht viel sei. Der Rest geht im bitteren Auflachen der Gefangenen unter.
Ganz so unbeleckt tritt Christian Pfeiffer natürlich nicht auf. Immerhin hat er schon vor 50 Jahren zum ersten Mal eine JVA betreten, damals als ehrenamtlicher Bewährungshelfer. Und sowohl in seiner Forschung als auch in seiner Zeit als Minister hat er sich immer wieder mit der Situation in den Haftanstalten befasst.
Heute will er die Quintessenz dieser langen Karriere unter das Volk bringen. Und die lautet vor allem: Alles ist besser geworden. Weil sich in der Kindererziehung in den vergangenen Jahren das Prinzip „mehr Liebe, weniger Hiebe“ durchgesetzt habe. Mit vielen Zahlen versucht er nachdrücklich zu belegen, dass Gewalt, Kriminalität, Drogenmissbrauch und Suizidalität rückläufig sind, seit man Kinder besser behandelt.
Für Rückschritte hätten allerdings diverse „importierte Macho-Kulturen“ gesorgt, sagt Pfeiffer. Und zwar sowohl durch die Türken und Russlanddeutschen früher als auch durch die arabische und afrikanische Zuwanderung heute. Dagegen helfe nur zweierlei: konsequente Strafverfolgung und intensive Bildungsangebote.
Die Rede von Liebe, Gerechtigkeit und Bildung löst bei den meisten Gefangenen eher verlegenes Füßescharren aus. Vor allem als Pfeiffer zum Abschluss eine persönliche Anekdote erzählt, die ihn selbst zu Tränen rührt. Wie nämlich der polnische Zwangsarbeiter auf dem Hof seiner Eltern ihn und seine Geschwister mit hohem persönlichen Einsatz vor den anrückenden Russen gerettet habe – einfach weil Pfeiffers Mutter den Mann immer anständig behandelt habe.
Lieber keine Diskussion über BgH-Zellen
Die Häftlinge diskutieren da lieber andere Fragen: Wie man mit kriminellen Clans umgehen solle. Oder was Pfeiffer zu den zeitweise katastrophalen Zuständen im Jugendstrafvollzug in Hameln zu sagen habe. Der stimmt erst einmal zu und verweist dann auf die Fortschritte, die in beiden Feldern gemacht würden.
Nur als einer der Gefangenen den Einsatz der „BgH-Zellen“ zu thematisieren versucht, blockt er ab. In die gepolsterten Zellen ohne Einrichtung und mit Rundum-Überwachung kommen Häftlinge, die ausrasten oder unter Drogen stehen. Ja, die habe man ihm gezeigt, sagt Christian Pfeiffer. Und man habe das Bedauern ausgedrückt, diese so oft nutzen zu müssen. Mehr könne er dazu nicht sagen, sagt er, als der Gefangene protestieren will. Die Diskussionszeit ist dann auch vorüber.
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