Die Wahrheit: Meister der Kolben
Der witzigste Hühnervernäher der Welt. ©Tom feiert 60. Geburtstag. Eine festliche Festschrift für den großen Witzbildchen-Zeichner.
Die Berufswahl ist für die meisten Menschen eine der schwierigsten Lebensfragen. Die Wege zum täglichen Brot sind mitunter so krumm und verwinkelt wie Ingwerknollen. Das gilt auch für Cartoonisten, vielleicht sogar besonders für sie, weil es keine Lehrstellen für Zeichner lustiger Bilder gibt. So ist ein Blick auf den frühen Werdegang des heute wohl einzigen Badeners, der sein Berufsleben mit der Kreation von mehr als 8.000 Dreibildwitzchen gestaltet hat, für jeden Biografen eine interessante Aufgabe.
Die Geschichte beginnt in den frühen achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die Lebensfreude zugewanderter Westberliner wurde noch nicht von Karrierestreben, Kinderkriegen oder Gejammer über fehlende Quality Time gemindert. Alle nahmen sich Zeit, erst einmal nach dem Sinn, in ©Toms Fall dem Unsinn des Lebens zu suchen. Dabei entwickelte er eine höchst erfolgreiche deduktive Systematik. Geschichtsstudium anfangen, erwies sich nicht als der Heuler. Politik studieren? Schon besser, jedenfalls ein paar Semester. Aber dann wusste er nicht, was zum Teufel er mit einem Abschluss in Politikwissenschaft machen sollte. Eines war klar: Astronaut ging nicht, wegen der Brille. Kosmonaut ging auch nicht, weil die Mauer dazwischen stand. Ergo: weitersuchen.
Vielleicht hilft ein Blick auf die eigenen Talente, dachte er sich. Damit kam eine Karriere, die schnelle Entscheidungen voraussetzte, nicht mehr in Frage. Spätestens nach einer Partie Tipp-Kick in der WG reifte diese Erkenntnis. Das ist ein Spiel, bei dem zwei Spieler und zwei Torwarte gegeneinander auf einem kleinen Spielfeld aus grünem Tuch antreten. Dran ist immer der, dessen Farbe beim zweifarbigen Ball nach oben zeigt. Ist der andere am Zug, heißt es, schnell zum Torwart greifen und den drohenden Schuss des Gegners abwehren.
In Baden wartet der Gegenspieler wahrscheinlich, bis sich der Kontrahent in aller Ruhe hinter seinem Torhüter postiert. In Berlin schießt er mit Vorliebe so schnell wie möglich. Was sich als erfolgreiche Strategie erweist. Profi-Tischkicker schied somit für ©Tom, der damals noch Thomas hieß, auch aus.
Wohlhabende Wirte
Wenn er nachts nicht gerade Fotoaufträge sortierte oder tagsüber Werbemittel bedruckte, malte ©Tom privat alles voll, was da so lag, ob Servietten beim Italiener oder Papiertischtücher in der Kneipe. Hätten die Wirte alle Originale gesammelt, wären sie heute wohlhabend.
Zunächst waren es Figuren mit Knicknasen und langer Oberlippe, die sich in irgendwelche unvorteilhafte Positionen manövriert hatten. „Schick das doch mal ein“, forderten seine Freunde und Freundinnen immer wieder, erkennend, dass hier ein Talent verborgen lag. Doch ©Tom traute sich nicht. Zu weit entfernt lagen seine Vorbilder, die Zeichner von Tim und Struppi, Lucky Luke, Peanuts und anderen Comics. Also neuer deduktiver Versuch: Dieses Zwischenspiel hat viel mit Schnaps zu tun, einem blauen Anzug, dem Besuch einer Messe für geistige Getränke und einer in dieser Branche anhaltend leeren Kasse. Aber das muss er irgendwann selbst erzählen.
Es war vielleicht das Unbehagen im und am blauen Anzug, dass er die letzte Möglichkeit, zum Cartoonisten zu werden, nicht verwarf. Jedenfalls schickte ©Tom eines Tages nach beharrlichem Drängen seiner Freunde endlich ein paar bekritzelte Blätter an das Berliner Stadtmagazin Zitty. Zunächst passierte gar nichts, und zwar monatelang. Schließlich schrumpfte er die Oberlippen der Figuren und verlängerte die Nasen. Und auf einmal druckte die Zitty seine Zeichnungen. Jahre später erfuhr ©Tom, dass die Redakteure beim ersten Versuch die Witze zwar gut, aber die Zeichnungen schlecht fanden. Mit den neuen Gesichtszügen der Figuren stand der Karriere nichts mehr im Weg.
©Tom jobbte damals im Comicladen Grober Unfug, und hörte schließlich bei einer Vernissage von Lilian Mousli, der Gründungszeichnerin der Wahrheit, dass bei der taz ein Zeichner gesucht wurde. Als Mouslis „Grusel-Alphabet“, das zu Beginn der neunziger Jahre für einiges Aufsehen unter den taz-Lesern sorgte, beendet war, da es ja nur 26 Buchstaben gibt, sagte ihr der erste Wahrheit-Redakteur Karl Wegmann: „Frag mal ein paar Kollegen.“ Das war 1991 – und es war ©Toms Chance.
Die Eltern hielten es für einen Versuch des langsamen finanziellen wie intellektuellen Selbstmords. Doch spätestens nachdem die taz ihn entdeckt hatte, stand der Berufsweg fest. Es gibt seitdem keinen Zeichner in Deutschland, der dermaßen täglich Streifen liefert, und genauso täglich freuen sich Tausende Leser auf einen neuen Einfall ©Toms. Er ist längst der beliebteste Autor der taz, das ist durch Umfragen verbürgt.
Freibad mit Bademeisterfiguren
Die Eltern behielten nicht recht, ©Toms Witz und Zeichenstil kamen auch bei anderen Zeitungen und Zeitschriften an, und in Neckarsulm durfte er sogar ein ganzes Freibad dekorieren, denn zu seinen bekanntesten Figuren gehören die beiden Bademeister – Figuren, die ihn in seiner Vorschulzeit im Schwimmbad immer angebrüllt hatten, was er cool fand. Jedenfalls kann er inzwischen von seinen „Witzbildchen“, wie er sie selbst nennt, längst leben – und nicht nur das: Es hat sogar für einen japanischen Sportwagen gereicht, mit dem er und seine Partnerin Anette gern durch die Weltgeschichte sausen.
Aber er ist, auch im Opa-Alter, keine Umweltsau, denn in Berlin fährt er Fahrrad. Deshalb ist er fit – und weil er in Schöneberg unterm Dach wohnt, was seinen weniger trainierten Besuchern alles abverlangt. Aber sie werden mit opulenten Mahlzeiten wieder zu Kräften gebracht, denn ©Tom ist Geflügelspezialist und begnadeter Hühnervernäher. Schließlich ist er seiner Heimat Lörrach an der Grenze zu Frankreich und der Schweiz verpflichtet.
Im Grunde hätte er auch Koch werden können, aber dann wären den Menschen seine Zeichnungen vorenthalten geblieben. Und das wäre doch schade gewesen, denn fast alle seine Einfälle sind erfreulich und lassen die Leser laut loslachen, wie man bisweilen in der Berliner U-Bahn miterleben kann.
©Tom ist nie verletzend, aber er nimmt alle hoch. Daran könnten sich etliche Kritiker aus den sozialen Netzwerken ein Beispiel nehmen. Auch von seinen anderen Eigenschaften kann sich mancher etwa abgucken. Kaum jemand ist so fleißig und verlässlich – in jeder Hinsicht. Herzlichen Glückwunsch zum Sechzigsten, ©Tom! Weiter so!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“