Die Wahrheit: Maßanzüge für das Dixi-Klo
In den Großbetrieben des Landes versucht der FDP-Chef und selbst ernannte Arbeiterführer Lindner die Werktätigen zu agitieren.
Lausitz, Mitte Januar. Christian Lindner und ein paar Kollegen der örtlichen Fraktion der Liberalen stehen vor dem Eingangstor zum Tagebaugelände Jänschwalde. Ihr Ziel: der Dialog mit den Kohlekumpeln. Waren es früher allenfalls stramme Kommunisten, Soziologiestudenten über der Regelstudienzeit und Gregor Gysi, die sich dann und wann einen Helm auf den Kopf setzten, um in Grube oder Fabrik umherzuspazieren und dort die Arbeitsbedingungen zu studieren, mischt sich heute auch so manch Liberaler unters Proletariat.
Grund dafür: Die FDP hat den Arbeiter für sich entdeckt. „Wir wollen die enttäuschten SPD-Wähler abfischen“, erklärt uns Lindner. Dafür wurde sogar eigens ein revolutionärer Flügel in der FDP gegründet. „Wir nennen uns die Gelbfront!“, sagt er. „Unser Ziel ist es, die kritische Masse der Werktätigen aufzuklären und ihre Fesseln zu sprengen. Wir möchten sie dazu ermuntern, sich aus der Lage des Knechts zu befreien und stattdessen florierende Start-ups im beratenden Sektor zu gründen.“
Ein Arbeiter mit rußbeschmiertem Gesicht erscheint am Zaun und lässt uns hinein. Ein freundlich knirschender Händedruck, dann geht es den Erdhügel hinab in Richtung eines gigantischen Kohlebaggers. „Wir sehen großes Potenzial für Wählerwanderungen der SPD-Anhänger hin zur FDP“, erklärt Lindner. „Der SPD-Wähler musste über die Jahre hinweg bittere Enttäuschungen durchstehen, wurde gebeutelt, getreten und schamlos hintergangen – das ist doch etwas, das wir ihm schon lange anbieten können!“
Tatsächlich ist der Arbeiter 2020 längst aus dem Raster der Traditionsparteien gefallen: Die CDU ist damit beschäftigt, private Schulden bei Friedrich Merz abzustottern, die Grünen liegen in Robert Habecks Harem und massieren ihm die Füße mit Sesamöl, und die SPD existiert nur noch ironisch.
Kreuzverfugt noch eins!
Noch hat die FDP bei den Arbeitern einen eher schlechten Stand, so lassen sich zumindest die letzten Umfrageergebnisse interpretieren. Auf die Frage, ob sie sich vorstellen könnten, die FDP zu wählen, antworteten 64 Prozent der Befragten, eher würden sie sich einen Spreizdübel in die Nase jagen, ganze 11 Prozent immerhin würden sich lieber einen Liter Abbeizer in die Augäpfel massieren, und der Rest bevorzugte es, wahlweise geteert, geleimt, genietet, verputzt, verschweißt, vernagelt, zersägt, zerspant, zerkleinert, kaltgelagert, kurzgeschlossen oder kreuzverfugt zu werden. Doch was nicht ist, das kann ja noch werden!
„Günni! Komm ma her! Du taube Sau!“, schreit Geldfrontkämpfer Lindner im lokaltypischen Arbeiterjargon einem Schaufelradbagger entgegen und winkt mit beiden Armen. Tatsächlich steigt kurz darauf ein Günni die Leiter herab und grüßt uns: „Na, ihr Flitzpiepen?“
„Grüß dich auch, Flitzpiepe!“, sagt Lindner und erklärt uns flüsternd, wie wichtig es ist, immer die Sprache des Empfängers zu sprechen. Weitere Kohlekumpel gesellen sich hinzu. Krawatte meets Warnweste. „Wir möchten mit euch über den Kapitalismus und die Welt reden!“, sagt Lindner und verteilt ein paar gelbe Propagandaflyer. Schon ist er in seinem Element, ganz im Lindner’schen Agitationsmodus.
„Anvisieren, agitieren, profitieren!“ So lautet der Plan. Das Interesse wächst – immer mehr Arbeiter versammeln sich um die liberalen Pioniere. Manch einer klopft ihnen anerkennend auf die Schulter, sogar die ein oder andere Ohrfeige wird ausgeteilt.
„Ein Zeichen der Zustimmung“, erklärt Lindner und hält sich die gerötete Wange. „Die Sitten hier sind eben etwas rauer als an der Mediaspree oder in der Hafencity. Aber das muss man aushalten.“
Liberaler Heros
Am Rande des Abbaugebiets packt Lindner die Geheimwaffe der Gelbfront aus, das Manifest des modernen Arbeiters, die Mao-Bibel der FDP: Carsten Maschmeyers „Die Millionärsformel – Der Weg zur finanziellen Unabhängigkeit“. Lindner steigt auf eine Bierkiste, lockert sich den Hemdkragen und trägt mit heroischer Stimme die liberalen Grundgedanken daraus vor: „Die erste Million ist immer die schwerste!“, „Geld stinkt nicht!“ und „Steuern runter, Schwanzvergleich!“ Es herrscht reger Andrang, während er die Werktätigen über den aktuellen Goldkurs und moderne E-Tradingsysteme aufklärt. Ein Raunen macht sich breit, die Menge wird unruhig. Beeindruckend – jeder will am Spektakel teilhaben und so viel wie möglich für sich mitnehmen.
Zeit, die Gegenseite zu befragen. Unauffällig mischen wir uns unter die Masse der Werktätigen. Was halten die Arbeiter von der Gelbfront? – „Gelbfront?“, fragt ein Baggerfahrer etwas irritiert. „Ganz üble Sache. Daran ist Jägermeister-Kalle vom Förderband letztes Jahr vor die Hunde gegangen.“ Betretenes Schweigen. Der Baggerfahrer nimmt einen Schluck aus der Bierflasche, prostet gen Himmel und bietet uns ebenfalls eine Flasche an. Dankend nehmen wir an und gesellen uns etwas abseits zu einer Runde am Pausenbänkchen. Man spielt Armdrücken und diskutiert über die Darts-WM, Rückenschmerzen und Greta Thunberg. Auffallend: Kein Wort über liberale Herzensangelegenheiten wie Aktienkurse, Erbschaften oder die Finanztransaktionssteuer. Die ideologischen Gräben sind so tief wie die Furchen im Erdboden des Braunkohlereviers. Kann die Gelbfront sie überwinden? Passen unsichtbare Hand und rußbeschmierte Hand zusammen?
Nachdem wir die vierte Runde Underberg heruntergestürzt, Hosen und Schuhe beim Skat verspielt und das für Besucher offensichtlich traditionelle Hinterntreten über uns haben ergehen lassen, stellt sich endlich ein Gefühl der Verbundenheit ein. Jeder spürt es: Hier begegnen sich gerade zwei Welten. Die Atmosphäre ist unbeschreiblich, immer lauter werden die Stimmen der Arbeiter, man hört Gejohle und Freudenschreie. Das hätte noch vor Kurzem keiner gedacht. Sollte der FDP geglückt sein, woran so viele Parteien vor ihr gescheitert sind? Ist ihr das historische Kunststück gelungen? Hat sie die Klassenfrage aufgehoben?
Auslaufende Dixi-Klos
Die erste Annäherung ist jedenfalls gemacht – und sie ist geglückt. Die Maßanzüge der FDP-Fraktion sind längst in den Händen der Arbeiter, die damit das auslaufende Dixi-Klo abdichten. Solidarität kann so praktisch sein. Zurück in der Grube staunen wir nicht schlecht:
Oben hängt Arbeiterführer Christian Lindner in Warnweste am Schaufelradbagger, dreht sich im Kreis und ist im Getöse kaum noch zu hören. Es gibt keine Hemmungen mehr. Jetzt ist nach Adam Riese Smith alles möglich. Unter dem fuchtelnden Lindner stehen fröhliche Arbeiter, blicken zu ihm auf und winken lachend zurück. Er hat es geschafft – Christian Lindner ist am Ziel angekommen. Er hat die Massen aus der Lethargie geführt, und alle Augen sind auf ihn gerichtet. Den Rest wird der Markt schon regeln.
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