Filmempfehlung für Berlin: Rundumblick von den Rändern
Beim Festival „Unknown Pleasures“ werden im Arsenal und im Kino Wolf selten zu sehende US-Independent-Filme älteren und neueren Datums präsentiert.
Die Freiheitsstatue ist vage am Horizont zu erahnen. José befindet sich nicht nur am anderen Ende der Stadt, sondern in einer völlig anderen Welt. Sie heißt Brooklyn, aber mit Hipstern in Williamsburg hat sie wenig gemein. José ist aus Mexiko gekommen, hat bislang keine Papiere und liefert Essen für ein Restaurant namens La Frontera aus.
In Jim McKays Film „En el séptimo día“ ist der siebte Tag, der Sonntag, dem Fußball gewidmet. Denn José ist ein begabter Spieler, sein Team hat es bis ins Finale eines Lokalturniers geschafft – doch leider gibt ihm sein Chef nicht frei. Die Fußballer verbindet indes ein ähnliches Schicksal: Sie alle arbeiten für wenige Dollar in Brooklyn, haben mal mehr, mal weniger ambitionierte Träume.
„Unknown Pleasures“ sozusagen, womit sich der Film auch auf dieser Ebene in das von Hannes Brühwiler zusammengestellte gleichnamige Programm einfügt. Zum elften Mal findet „Unknown Pleasures – American Independent Film Fest“ vom 1. bis zum 16. Januar im Arsenal sowie im Wolf statt und ermöglicht die Erkundung von Produktionen, älteren wie neueren Datums, die man möglicherweise nicht allzu schnell wiedersehen wird.
Beweglicher Protagonist
Ein Film wie „En el séptimo día“ mag für den deutschen Markt zu klein sein, doch es gelingt ihm ein genauer, ein randständiger Rundumblick. Denn Jim McKay kommt seinen mexikanischen Protagonisten fahrend nahe: José, der seine Tage auf dem Fahrrad zubringt, ist die bewegliche Figur des Films.
Mit ihm besucht man nicht nur die Freunde während ihrer Arbeit in Blumen- und Gemüseläden (oder einem Geschäft für Erotikartikel samt Videokabinen), sondern auch die zu beliefernden Kunden. Unsympathische junge Menschen in Start-up-Unternehmen, die ihre Bestellung aus dem Auto aufgeben und nicht anwesend sind, wenn Josés Speisen eintreffen – ohne einen Gedanken an den Lieferanten zu verschwenden, der im Grunde keine Zeit hat, zu warten. „En el séptimo día“ wechselt ganz selbstverständlich die Perspektive, ohne beiläufig zu sein.
Eine Aufgabe, die auch Henry Graham (Walter Matthau) in Elaine Mays wunderbarem Film „A New Leaf“ (1971) bevorsteht. May, der das Festival mit insgesamt vier Filmen einen Schwerpunkt gewidmet hat, spielt in ihrem Regiedebüt die Hauptrolle. Sie ist Henrietta Lowell, eine wohlhabende Botanikerin, nerdig und unfreiwillig gesellschaftlich unangepasst. Henry Graham beschreibt sie so: „Rich, single, isolated.“ Und sich selbst: „All I am – or was – is rich. And that’s all I ever wanted to be.“ Aussagen, anhand derer klarwerden könnte, was Henry an Henrietta interessiert.
Der deutsche Verleihtitel verrät mehr: „Keiner killt so schlecht wie ich“. May, die, bevor sie eine eigene, seltene Karriere als Hollywoodregisseurin begann, ein Comedy-Duo mit Mike Nichols („The Graduate“) bildete, beweist in „A New Leaf“ nicht nur eine große Begabung für das Schreiben von Dialogen – und Walter Matthau ist die perfekte Besetzung für lange, komische Lines –, auch ihrem Spiel zuzusehen ist erfrischend.
Die Begegnung der Pflanzenexpertin auf der Suche nach bisher unentdeckten Spezies mit dem ewigen Junggesellen Henry, der eigentlich nichts anderes möchte, als seinen ausschweifenden Lebensstil fortzuführen, ist eine auf Inkompatibilität angelegte Komödie: Der Strumpfhalter tragende Gentleman trifft auf die Wissenschaftlerin mit zerwühlter Frisur, die daran scheitert, Arm- und Kopfloch ihrer Robe auseinanderzuhalten. Die Entdeckung Elaine Mays lohnt.
Höhepunkt des Wahnsinns
Ebenso wie Alex Ross Perrys neues Werk „Her Smell“ (2018). Wie schon in seinem Film „Queen of Earth“ (2015) brilliert abermals Elisabeth Moss, die hier als Mischung aus Courtney Love und Genesis P-Orridge auftritt. Sie ist Frontfrau der 1990er-Jahre-Punkband Something She, die nach einer Erfolgswelle den Boden unter den Füßen verliert. Einen Boden, den es vielleicht nie gab. Perry erwischt sie auf dem Höhepunkt des Wahnsinns, wo backstage perfide Streitereien ausgefochten werden, während Schamanen Rituale vollziehen. Im Hintergrund stets: tobende Fans.
Perry zeigt das Leben Beckys anhand einiger langer Sequenzen, die alle eine andere Facette der Künstlerin (und von Elisabeth Moss’ Talent) hervorheben. Das Milieu um die Musikerinnen samt zähnefletschendem Management ist anstrengend und fiebrig, und wenn der US-amerikanische Filmkritiker J. Hoberman über „A New Leaf“ schreibt, es handle sich um ein „vernichtendes feministisches Psychodrama“, so könnte dies bisweilen auch auf „Her Smell“ zutreffen.
Doch obwohl die Bänder zwischen den Frauen immer wieder reißen, zwirbelt Alex Ross Perry Beckys Comeback letztlich doch aus genau diesem Material. Und Auftritte von Agyness Deyn und Cara Delevingne tun ein Übriges. „Her Smell“ könnte der glitzernde Abgrund dieses vielseitigen und an Abgründen reichen Programms sein, das es sich, wie seine Filme, an keiner Stelle zu leicht macht.
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