: Wo die Unabhängigkeit der Richter*innen endet
Ein Richter verteidigt den Inhalt des NPD-Wahlplakates „Migration tötet“ als „empirisch zu beweisende Tatsache“. Die Neue Richtervereinigung kritisiert das Urteil vehement
Von André Zuschlag
Es geschah vor der Europawahl: Die hessische Gemeinde Ranstadt hatte Wahlplakate der rechtsextremen NPD abgehängt. Begründung: Volksverhetzung! Denn auf den Plakaten stand: „Stoppt die Invasion: Migration tötet! Widerstand – jetzt“. Doch ein Richter am Verwaltungsgericht Gießen sah das anders. In einer 20-seitigen Begründung führte er umfangreich aus, warum „Migration tötet“ die Realität darstelle. Dass das womöglich auch seinen eigenen politischen Ansichten entspricht, wirft auch anderswo Fragen nach der Unabhängigkeit von Richter*innen auf.
Bereits im August hatte das zuständige Verwaltungsgericht zugunsten des Landesverbands der NPD entschieden. Die hatte geklagt, weil die Gemeinde deren Wahlplakate nicht dulden wollte und die NPD stattdessen im Mai aufforderte, sie binnen zwei Tagen zu entfernen. Die Gemeinde berief sich auf ein Urteil aus Dresden, das NPD-Wahlplakate bereits als volksverhetzend im Sinne von § 130 Strafgesetzbuch eingestuft hatte.
Allerdings wurden die Plakate dann abgehängt, ohne der Partei die Möglichkeit zur Anhörung zu geben. Das Gericht kam zum Ergebnis, dass die Beseitigungsanordnung der Stadt rechtswidrig gewesen war, gab der Klage der NPD also statt und ließ wegen der grundsätzlichen Bedeutung eine Berufung zum Verwaltungsgerichtshof zu. Dort hat die Gemeinde bereits Berufung eingelegt.
Die Nicht-Anhörung sowie der Verweis auf das hohe Gut der Meinungsfreiheit hätte das zuständige Gericht, das aus lediglich einem Richter, dem sogenannten Berichterstatter, bestand, problemlos in der Begründung seiner Entscheidung anführen können. Das wäre zwar politisch immer noch umstritten, aber ohne große öffentliche Empörung geblieben.
Stattdessen füllte er seine Begründung mit ausgedehnten Hinweisen auf den Salafismus, die Kriminalitätsstatistik, die Kölner Silvesternacht sowie ertrunkene Flüchtlinge und sogar den Untergang des Römischen Reiches. Zusammengefasst: Das Wahlplakat sei nicht volksverhetzend, sondern „eine empirisch zu beweisende Tatsache“. Und 2015 habe Deutschland ja tatsächlich eine Invasion erlebt.
Dabei ist der Richter bereits in der Vergangenheit mit fragwürdigen Ansichten aufgefallen: So hatte er Zweifel angebracht, ob das Jobcenter tatsächlich eine richtige Behörde sei – er störte sich am Anglizismus.
Die Neue Richtervereinigung (NRV), ein Zusammenschluss kritischer Richter*innen und Staatsanwält*innen, kritisiert das Urteil vehement: „Die Begründung der Entscheidung, warum der Slogan nicht volksverhetzend sei, leidet an groben handwerklichen juristischen Mängeln und ist mit den Werten unserer Verfassung nicht zu vereinbaren“, sagt deren Sprecher Stephan Bitter. Es handele sich um ein Urteil „mit rassistischem Gedankengut und menschenverachtenden Positionen“.
Nun ist es aus gutem Grund so, dass Richter*innen frei entscheiden können, nur ihrem Gewissen verpflichtet und den geltenden Gesetzen unterworfen sind. Richterliche Unabhängigkeit ist ein hohes Gut. Denn sie gewährt Richter*innen Schutz vor persönlichen Sanktionen für missliebige Entscheidungen. Doch fällt auch unter die richterliche Unabhängigkeit, rassistische Positionen zu vertreten? Kann diese Begründung Konsequenzen für den Richter haben?
„Die Hürden für Disziplinarmaßnahmen sind sehr hoch und das zurecht“, sagt Ruben Franzen, der im NRV Fachgruppensprecher im Bereich Justizstruktur und Gerichtsverfassung ist. So ist die eigentliche Rechtsfindung ein Schutzbereich, in den sich der Dienstherr nicht einmischen darf.
Doch, und das ist entscheidend, hat der zuständige Richter die Form der Urteilsbegründung genutzt, um eine politische Stellungnahme abzugeben. Und die hat eben nichts mit der eigentlichen Rechtsfindung zu tun. „Wenn ein Richter eine Urteilsbegründung missbraucht, um seine eigenen Ansichten zu verbreiten, die nichts mit der Begründung der Entscheidung zu tun haben, kann dies Gegenstand einer Disziplinarmaßnahme sein“, sagt Franzen. Haben Äußerungen von Richter*innen also nichts mit dem sachlichen Inhalt der zu treffenden Entscheidung zu tun, kann sich die Dienstaufsicht einmischen.
So hatte der Bundesgerichtshof 2006 entschieden, dass die Rüge gegen einen Richter wegen Beleidigung rechtens war. Er hatte einen Rechtsanwalt beleidigt, wollte die Rüge aber mit Verweis auf seine Unabhängigkeit nicht akzeptieren. Der BGH sah das anders und rechtfertigte trotz der grundsätzlichen richterlichen Unabhängigkeit die Einschaltung der Dienstaufsicht. Die Unabhängigkeit von Richter*innen endet also dort, wo sie selbst durch Äußerungen den Kern richterlicher Tätigkeit verlassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen