2050 – Eine weibliche Utopie: Verlieb dich nicht in die Macht
Nach der klimatischen Unumkehrbarkeit existiert die alte Ordnung nicht mehr. Eine Skizze der postfeministischen Revolution.
Der Kapitalismus konnte uns schon seit Jahrzehnten nichts mehr geben. Also pflanzten wir an. Als Grundversorgung für die Kommune, im ersten Frühjahr und aufgrund ihrer Haltbarkeit, zunächst deutsche Klassiker: Kartoffeln und Kohl. Gleich danach Medizinalpflanzen: Salbei (Halsschmerzen), Johanniskraut (Depression), Kamille, Ringelblume und Arnika (Antiseptikum und Antibiotikum) sowie Wermut (entwurmend). Zuletzt sortenreines Gemüse wie Kürbis, Pastinake, Möhren, Zwiebeln. Und Obstbäume: Apfel, Zitronen, Feigen. Keine Hybride.
Nach getaner Arbeit schloss ich mich oft einer Gruppe Surfer* auf einem der reißenden Rhein-Nebenflüsse an. Ab und an gesellte ich mich zu unserer Imaginationsgruppe, in der wir zuletzt Schneearten reenacteten. Abends arbeiteten wir an der Gleichstellung unserer Affekte: brüllen, weinen, lachen im kollektiven Takt. Ich mochte es, nicht mehr so viel über meine Gefühle nachzudenken. Auch andere Konflikte hatten wir ausgeräumt: Wir waren Postnahostkonflikt. Posteffizienz. Postkanon.
Die perfekte Welle
Menstruations-Kojen – kleine Wärmezelte mit Massagestationen – liebkosten unseren Unterleib. Everyone’s just in for good people, and good waves. (Wir wollten alle nur Liebe und die perfekte Welle.) Auf unseren Bannern prangte ein silbernes Windrad auf dunkelgrünem Grund – rund, fluide und phallusfrei wie wir.
Es war naiv, nicht ans Vagabundieren zu glauben. Seit der Klimatischen Unumkehrbarkeit um 2030, Stunde X oder: die Unendliche Desillusion, begann die Große Erzählung der Menschheit. Wir wussten, dass jede noch so linke oder liberale Utopie, jeder Freiheitsgewinn der letzten hundert Jahre, unter den Vorzeichen einer Neuerzählung stand. Die Natur rächte sich am menschlichen Geist dafür, dass er ihr seine Vorstellungen aufgezwungen hatte. Die Menschheitsgeschichte war die der menschlichen Domestizierung durch die Natur und nicht umgekehrt.
Top oder bottom?“, fragte mich T. beim Morgenlauf. * sah müde aus. Im Zuge des Community-Austauschs „Help me, hurt me, love me“ ( Hilf mir, beiß mich, lieb mich) hatte T. uns am Vortag von dem schwedischen Hafen Malmö erreicht. Wir fanden uns gleich anziehend und versicherten uns, am nächsten Abend miteinander schlafen zu wollen. „Die Frage oben oder unten“, so schnaufte ich verlegen, „ist jetzt nicht lösbar. Im intimen Raum schreiben wir unser Skript Herzschlag für Herzschlag neu.“
Wir hatten uns entschieden, der Großen Erzählung mit homogener Diversität zu begegnen. Wir versuchten uns daran, unsere Community, bis dato in Zaum gehalten durch Großstadtfixierung, zu verdörflichen. Ich betrachtete das als wohlgeordnete Expansion. Frei nach dem Dichter Fred Moten: Wir können nicht leugnen, dass die Mehrheit einen Zufluchtsort markiert, und nicht akzeptieren, dass sie ein Ort der Aufklärung ist. Drei Grundregeln für unser Miteinander: Verlieb dich nicht in die Macht, denke nicht negativ, mach dir keine Utopie zu eigen. Was, wenn wir statt auf Kategorien in unsere reinen Seelen schauen könnten?
Uns unterbrach ein chorisches Pfeifen von „Go West“. Ich führte T., * dabei kaum am Arm streifend, zum Anti-Identitäts-Warm-up. „Sorry, dass ich dich einfach so berührt habe“, flüsterte ich T. beschämt ins Ohr. „Daddy, ich will, dass du mir hier auflauerst, mit einem Strap-on gewaltvoll in mich eindringst und mir dabei das Gefühl gibst, dass ich das Gefäß bin, ohne das deine Sehnsucht nach Dominanz nie real geworden wäre“, erwiderte T.
Ich hielt inne, Schweiß auf der Oberlippe, Blick in der Schlacke. „T., was du forderst, existiert nicht. Die post-feministische Revolution ist nicht hierarchisch!“ „Ist doch alles okay, solange es abgesprochen und instabil ist. Fühlt sich die Frage nach Konsens für dich etwa kompliziert an?“ Ich war völlig konsterniert.
Nackt und unkompostierbar
An Intimität auf Augenhöhe war jedenfalls nicht mehr zu denken und ich hätte T.s Ausbruch eines Tages vielleicht aus meinen Fantasien bannen können, wenn nicht am siebten Tag unseres Figurinen-Festivals Folgendes passierte: T. setzte die Schaufel auf den Rasen, gab ihr einen kleinen Stoß, noch einen und noch einen und stieß auf Widerstand.
Es hätte die Pflanzung eines Baums werden sollen, aber alles, was T. aus der Erde holte, ohne Wurzel oder Myzelien, nackt, viereckig und ungewohnt unkompostierbar, ja, geradezu von seltenem anorganischem Wert, war eine rote Box mit der Aufschrift: too long; didn’t read. Ich war erregt. Fast hätte ich T. umgestoßen, beiseite gerammt, jedenfalls war ich in meiner Aufregung viel zu heftig gewesen, die Schachtel fiel zu Boden und da lag’s. Weiß wie der Schnee bei Universal Pictures.
Im Zentrum: ein handgeschriebener Brief, etwa vier DIN-A4-Seiten lang, die Buchstaben leicht kursiv, wenig geschwungen, kaum gesetzt. Das Fehlen einer Triggerwarnung vor Texten bekam uns nicht. „Ich fühle mich entmündigt“, sagte ich empört in die Runde. Eifriges Nicken. F. schaute kurz nach unten und wendete sich uns zu: „Welche Sprache ist das?“ Ich linste auf den Brief. „Deutsch“. Seit Gründung unserer Gemeinschaft sprachen wir Englisch miteinander. Alle anderen Sprachen verwaisten in mündlicher Form und kehrten als reine Schriftsprachen zurück. Wir nannten das Neo-Latinisierung. Ich war * einzige, * Deutsch lesen konnte. T. schaute mich an: „Lies!“
Ich dachte an die Zeit vor der Großen Erzählung. Ich dachte an Jahreszeiten, die unendlich breite Gegenwart. Ich dachte an die Zukunft als nachgelagerte*r Protagonist*in und begriff: Geschichtsschreibung ist niemals nicht selbstgefällig. „Los!“ T. war nervös.
Das männliche Geschlecht zerstören
Ich las laut: „Da das Leben in dieser Gesellschaft bestenfalls langweilig und kein gesellschaftlicher Bereich in irgendeiner Weise für Frauen gemacht ist, bleibt allen gemeinschaftlich orientierten, verantwortlichen und erlebnisgeilen weiblichen Wesen nichts anderes übrig, als die Regierung zu stürzen, das Finanzsystem abzuschaffen, die komplette Automatisierung einzurichten und das männliche Geschlecht zu zerstören.“ T. lachte auf, ich hielt inne. Die anderen schauten betreten zu Boden.
Um die Mitte des Jahrhunderts ist Schluss. Planet und Menschheit haben den Point of no Return erreicht, eine unbewohnbare Erde führt zum Zusammenbruch von Zivilisation und internationaler Ordnung – wenn wir nicht radikal umsteuern. So steht es in dem Bericht, den der australische Thinktank Breakthrough National Centre for Climate Restoration im Sommer 2019 veröffentlicht hat.
Wir wollen diese Prognose zum Anlass nehmen, im Rahmen einer Reihe darüber nachzudenken, was bis 2050 passieren wird, passieren kann – und was passieren muss, um das Unheil noch abzuwenden.
Wir wollen wissen, wie man sein Leben bis zum Untergang bestreitet, und wir möchten über eine komplexe und potenziell schönere Zukunft der Menschheit nachdenken – eine, die wir voraussichtlich verpassen werden.
Alles, was dann kam war, eine Mischung aus Farm fatale und Theorie-Revue. „Engels sprach 1884 davon, dass sich Frauen in Zwängen befinden, am stärksten in jenen der ökonomisch bestimmten Liebe“, sagte M. mit zittriger Stimme. „Schnee von gestern“, entgegnete C. „Ich hab ja schon immer gesagt: das Weibliche ist ein existenzieller Zustand. Für Mensch wie für die Natur. Ihr Dilemma ist es, sich selbst für das Verlangen anderer zu opfern.“ „Offensichtlich hat die Menschheit die klimatische Unumkehrbarkeit doch produziert, weil sie ihre eigene Vernichtung, also die ultimative Unterwerfung herbeisehnte – meine Meinung“, sagte M. „Jetzt ist kein Raum für Esoterik!“, polterte es aus T.
Ich war wie erstarrt. * Worte kamen mir vor wie Verrat. Die Große Erzählung der Menschheit als die Geschichte menschlicher Degeneration zu fassen, war die eine Sache. Aber unsere Identität zu verstehen als ein Zurückkommen auf eine verworfene Ordnung? Das ging nun wirklich zu weit. T. schaute mich an, klopfte auf * Oberschenkel: 1 x lang, 1 x kurz, 1 x lang. 3 x lang. 2 x lang. Ich wusste: Einer Hand wie deiner würde ich überall hin folgen. Wir liefen los.
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