: Alle wollen Wasservon Hamidiye
Vom Boykott zum Verkaufsschlager: Wie die Wassermarke Hamidiye Su in der Türkei unverhofft zum politischen Symbol gegen die Regierung wurde
Von Minez Bayülgen
Der 28-jährige Hayri hatte in seinem Job beim Istanbuler städtischen Trinkwasser-Lieferanten Hamidiye Su in den letzten Wochen viel zu tun. Seit drei Jahren nimmt er am Telefon die Bestellungen von Kund*innen entgegen und organisiert die Aufträge für die Auslieferer. Normalerweise klingelte das Telefon durchschnittlich alle zwanzig Minuten einmal. Das hat sich im vergangenen Monat schlagartig geändert: „Ich komme kaum noch mit den Bestellungen hinterher. Alle wollen das Wasser von Hamidiye trinken“, sagt er.
Es scheint, dass eine PET-Flasche Trinkwasser in der heutigen Türkei zu einem politischen Symbol geworden ist. Hamidiye Su ist eine der ältesten Wassermarken Istanbuls: Sultan Abdulhamid II. ließ ab 1902 Quellwasser abfüllen, um der wachsenden Stadtbevölkerung Istanbuls Trinkwasser zur Verfügung zu stellen. Der Betrieb ging in den Besitz der Stadt Istanbul über, die heute Haupteigentümerin des Unternehmens ist. Leitungswasser trinkt in Istanbul niemand, die meisten Privathaushalte und Firmen kaufen Trinkwasser in 19-Liter-Plastikgallonen für Wasserspender. Seit Jahren ist der Traditionsbetrieb die erste Wahl für die wichtigsten Behörden und öffentlichen Einrichtungen der Türkei.
Der Boykott von Hamidiye geht nach hinten los
Das änderte sich, nachdem die CHP Ende Juni endgültig die Istanbuler Kommunalwahlen gewonnen hatte. Plötzlich erneuerten einige Ministerien und öffentliche Unternehmen ihre Verträge mit Hamidiye Su nicht mehr. Wasserbestellungen in der Höhe von umgerechnet fast 300.000 Euro seien gekündigt worden, sagte der Istanbuler CHP-Abgeordnete Turan Aydoğan im Oktober im türkischen Parlament. Er vermutet hinter dem Boykott eine Racheaktion der AKP-Regierung.
Mit einem jährlichen Haushalt von 60 Milliarden türkischen Lira und 30 Großfirmen ist die Stadt Istanbul ein mächtiger Player in der türkischen Volkswirtschaft. In den vergangenen 25 Jahren war die Kommune fest in den Händen von Bürgermeistern aus der Tradition des politischen Islam, Erdoğan tat alles, um sie nicht zu verlieren. Als der CHP-Kandidat Ekrem İmamoğlu auch bei der erzwungenen Wiederholung der Kommunalwahl in Istanbul haushoch gewann, musste ihm die AKP die Kommune überlassen. Seither versucht die Regierung, den Einflussbereich der Stadtverwaltung einzuschränken.
Der Boykott öffentlicher Einrichtungen von Hamidiye Su löste eine Gegenbewegung der Kund*innen aus. Der Sprecher der CHP-Fraktion in der Istanbuler Bürgerschaft, Tarık Balyalı, verkündete eine Verdreifachung der Verkaufszahlen. Die Marke sei im Inland und Ausland schlagartig bekannter geworden.
Bei dem Wasserlieferanten Adem laufen die Geschäfte derzeit nicht gut. Seit sieben Jahren arbeitet er in Beyoğlu als Franchisenehmer für eine der führenden Wassermarken in der Türkei. Der Mann um die 30 möchte weder seinen Nachnamen noch den der Firma veröffentlicht sehen. Aber er erzählt mürrisch, wie er nach und nach Kunden, denen er jahrelang Trinkwasser geliefert hat, an Hamidiye verliert. „Meine Kunden wehren sich gegen den Boykott, und ich muss sagen, sie haben recht. Es war völlig überflüssig von der AKP, so ein Geschrei um Wassergallonen zu machen“, sagt er.
Um der CHP eins auszuwischen, beschädigt die AKP nicht nur eine Marke, die sie selbst aufgebaut hat, sondern zugleich ihre strategischen Ziele. Denn die AKP hatte in ihrer politischen Vision zum 100-jährigen Bestehen der Republik 2023 unter vielen Zahlen auch die Zielmarke genannt, jährlich Trinkwasser im Wert von 300 Millionen Dollar zu exportieren. 20 Prozent davon sollten laut dem Papier mit Hamidiye Su bestritten werden. 2005 stieg die Firma ins Exportgeschäft ein und liefert heute in 28 Länder – unter anderem auch nach Deutschland.
Die AKP verhalte sich so, weil sie wie eine gigantische Firmengruppe funktioniere, sagt der Sozialwissenschaftler Fatih Yaşlı, der sich mit den Konflikten zwischen dem rechten und linken Lager in der Türkei beschäftigt. Yaşlı zufolge konnte die Regierungspartei insbesondere über die Kommunen hohe Renditen im Bausektor abschöpfen und im ganzen Land ein weitverzweigtes Netz von Firmen mit kommunaler Beteiligung aufbauen. Mitglieder dieses Netzwerks verfolgen das erklärte Ziel, sich in ihren Geschäftsbeziehungen auf Kosten der öffentlichen Haushalte gegenseitig Profite zuzuschieben.
Eine Wassermarke wird über Nacht zum Politikum
Hamidiye Su war Teil dieses Netzwerks – bis die Firma aufgrund des Wahlergebnisses aus der Hand der Regierung geriet. Fatih Yaşlı geht davon aus, dass die Regierung daraufhin die nach wie vor von ihr kontrollierten Firmen, öffentlichen Unternehmen und Behörden angewiesen hat, zu anderen Wasseranbietern zu wechseln. Man wolle nicht, dass die aus den Verkäufen generierten Einnahmen der CHP in die Hände fielen. „Hamidiye Su war ein Leuchtturmprojekt der regierungstreuen Kreise, jetzt wird das Unternehmen zum Liebling all jener, die die Opposition unterstützen“, sagt er. „Über Nacht wurde eine Wassermarke zum Gegenstand politischer Kämpfe.“
Die 38-jährige Demet griff zum Telefon, sobald sie vom Hamidiye-Boykott erfuhr. Sie erklärte dem Lieferanten, der sie jahrelang mit Wasser einer bekannten Konkurrenzmarke versorgt hatte, dass sie aufgrund der AKP jetzt lieber Wasser von Hamidiye trinken möchte. Es macht sie wütend, dass die Regierungspartei der neuen Istanbuler Stadtverwaltung mit derartigen Spielchen ein Bein stellen möchte. „Die Regierung darf nicht eine Wassermarke benutzen, um die CHP dafür zu bestrafen, dass sie Wahlen gewonnen hat“, sagt sie. Demet ist sich sicher, dass die AKP mit Reaktionen aus der Bevölkerung zu rechnen habe, solange sie die Stadtverwaltung in ihrer Arbeit behindert.
Der Versuch, Hamidiye zu boykottieren, war weder die erste noch die letzte Initiative dieser Art. Ihre Verluste in den östlichen Provinzen des Landes versuchte die AKP zu kompensieren, indem sie die gewählten Bürgermeister*innen mittlerweile fast aller kurdischer Kommunen absetzen ließ. Im Westen des Landes fährt sie eine andere Strategie. So kündigte das Umweltministerium an, der Istanbuler Stadtverwaltung die Entscheidungskompetenz über den Bosporus zu entziehen und einer vom Staatspräsidenten zu ernennenden Kommission zu übergeben. Der Gesetzentwurf muss noch durchs Parlament. Der nächste Konflikt bahnt sich also bereits an.
Aus dem Türkischen von Oliver Kontny
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