talk of the town: Angst vor Kritik
Der türkische Schriftsteller und Journalist Ahmet Altan wurde am Dienstag nach wenigen Tagen in Freiheit erneut festgenommen. Das hat den Klang von Rache
Von Erk Acarer
Nur acht Tage nach fast dreieinhalb Jahren in Haft unter Auflagen aus dem Hochsicherheitsgefängnis Silivri entlassen, ist Ahmet Altan schon wieder im Gefängnis. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft hatte auf eine selbst für türkische Verhältnisse skandalöse Weise Revision gegen die Haftentlassung eingelegt und sich gegen die Richter durchgesetzt. Daraufhin nahmen auch die eigentlich zuständigen Richter ihre Entscheidung zurück, die Haft aufzuheben.
Erst im Oktober war ein Paket zur Justizreform durch das Parlament gegangen, das insbesondere für Menschen, die aufgrund von Einschränkungen der Meinungsfreiheit im Gefängnis sitzen, Besserungen bringen sollte. In den Medien wurde bereits darüber spekuliert, welche Intellektuellen jetzt freikommen würden. Viele Beobachter*innen hofften, dass die Justiz sich jetzt vom Klammergriff der Exekutive freischwimmen könne, zumindest in Teilen. Doch die unrechtmäßige Wiederverhaftung von Ahmet Altan zeigt, dass es immer noch nicht die Justiz ist, die in solchen Fällen das letzte Wort hat, sondern die Politik.
Zwei Wochen nach dem erfolglosen Putschversuch vom 15. Juli 2016 wurde Ahmet Altan verhaftet. Der diesjährige Träger des Geschwister-Scholl-Preises war zuletzt Herausgeber der regierungskritischen Zeitung Taraf, die nach dem Putsch verboten wurde. Konkret vorgeworfen wurde ihm, am Vorabend des Putsches in einer Live-Talkshow „unterschwellige Botschaften“ verbreitet zu haben, die „assoziativ“ zum Regierungssturz aufgerufen haben sollen. Deshalb wurde er unter dem Vorwurf inhaftiert, „willentlich und wissentlich einer bewaffneten Terrororganisation Hilfe geleistet“ zu haben – und am 4. November dieses Jahres unter Auflagen freigelassen.
Ahmet Altans Strafverteidigerin Figen Çalıkuşu erfuhr erst aus dem Fernsehen vom erneuten Haftbefehl gegen ihren frisch entlassenen Mandanten: „Nicht mir, sondern der amtlichen Nachrichtenagentur Anadolu wurde das Schriftstück zugestellt.“ Unter normalen Bedingungen hätte der Gerichtsentscheid zur Entlassung weder von der Staatsanwaltschaft angefochten noch von einem anderen erstinstanzlichen Gericht ignoriert werden dürfen, sagt Çalıkuşu der taz. „Jemand hat bei der Rechtsbeugung die Bremszüge durchtrennt“, sagt sie. Und Ahmet Altans früherer Anwalt Veysel Ok schrieb auf Twitter: „In ein und demselben Verfahren zweimal freigelassen und zweimal erneut inhaftiert. Versuchen Sie das einmal juristisch zu erklären. Einigen wir uns lieber darauf, dass es ein Racheakt war.“
Allerdings ist es nicht nur die Regierung, die sich augenscheinlich an Ahmet Altan rächen will. Seine eigentlich erfreuliche Haftentlassung in der ersten Novemberwoche legte auch den tektonischen Bruch offen, der sich durch die Opposition in der Türkei zieht. Als Chefredakteur der Zeitung Taraf hatte er in der Vergangenheit auch einiges an der Politik der AKP-Regierung als „demokratische Vorstöße“ gelobt. Diese Redaktionslinie wurde ihm nicht verziehen, obwohl er im Laufe der Jahre zu der Auffassung kam, dass die AKP sich zum Schlechten gewandelt hatte. Viele namhafte Oppositionelle hatten deshalb wenig dagegen zu sagen, dass Altan für ein Verbrechen im Knast saß, das er nie begangen hatte.
Zweifelsohne machte es die gespaltene Meinung unter Oppositionellen den Machthabern leichter, eine erneute Rechtsbeugung im Fall Altan zu begehen. Sobald es von Personalien abhängig gemacht wird, ob man sich dagegen empört, dass die Justiz von der Exekutive kontrolliert wird oder sich über Einzelentscheidungen sogar freut, lässt man der AKP in ihrer Willkür freie Hand. So kann Erdoğan das Justizsystem als Rutenbündel benutzen und Rechtsprechung als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln etablieren. Für Anwältin Çalıkuşu ist dieser Reflex Symptom einer chronischen Erkrankung der türkischen Gesellschaft: „Gerechtigkeit und Freiheit wollen alle immer nur fürs je eigene Team.“
Die AKP-Regierung hat die Verfassung der Türkei nicht nur verändert, sondern auch das bestehende Recht unverhohlen gebrochen und eine Auslegung durchgesetzt, die dazu dient, Dissident*innen zum Schweigen zu bringen. Ein weiteres Mal ist deutlich geworden, dass dem Rechtsproblem der Türkei nicht mit einer Justizreform beizukommen ist. Auch nach den jüngsten Reformen sind „Terrorismusverbrechen“ noch immer äußerst vage definiert. Im Osten des Landes können deshalb Bürgermeister*innen abgesetzt werden, die mit 70 Prozent der Stimmen gewählt wurden. In dieser Atmosphäre können Reformen nur darauf abzielen, das lädierte Vertrauen der Menschen ins Justizsystem mittels kosmetischer Maßnahmen zu reparieren. Und denjenigen ein Schlupfloch bieten, die der Regimekritik müde geworden sind und sich am liebsten vor den Karren der Machthaber spannen lassen würden. Erdoğan hat nach wie vor Angst vor freiem Denken und jeder Form von Kritik. Er wird immer wieder neue Wege finden, Rache an seinen Kritikern zu nehmen, indem er sie einer Justiz aussetzt, die er sich gefügig gemacht hat.
Aus dem Türkischen
von Oliver Kontny
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