heute in bremen: „Erhard hat systematisch gelogen“
Ulrike Herrmann, 55, Wirtschaftskorrespondentin der taz und Autorin. Aktuelles Buch: „Deutschland. Ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind“, Westend-Verlag, 320 S., 24,95 Euro
Interview Benno Schirrmeister
taz: Frau Herrmann, gab es ein Wunder in der deutschen Wirtschaftsgeschichte?
Ulrike Herrmann: Ganz klar nein. Es hat kein Wunder gegeben, sondern Wachstum. Das hat damals in ganz Europa stattgefunden, nicht nur in Deutschland. In manchen Ländern war es pro Kopf sogar stärker als in der damaligen BRD.
Aber hat nicht die Nachkriegskarriere Ludwig Erhards zum Helden der sozialen Marktwirtschaft etwas Wundersames?
Die war auch kein Wunder. Erhard hat systematisch gelogen und alles Belastende unterschlagen. Das hat seine Karriere ermöglicht. Er hat sich nach dem Krieg ja sogar eine Widerstandslegende zugelegt, um zu verdecken, wie belastet er war.
Sollte man ihn nicht als Täter bezeichnen?
Da bin ich vorsichtig: Er war ja kein KZ-Kommandant oder Kriegsverbrecher, sondern ein opportunistischer NS-Profiteur.
Ein Profiteur der die sogenannten Arisierungen in Lothringen evaluiert hat …
… und die Enteignungen in Polen, ja: Den meisten Deutschen ist bis heute nicht klar, welches barbarische Regime die Nazis dort errichtet hatten.
Die Konrad-Adenauer-Stiftung behauptet trotzdem, Erhard wäre politisch nicht durch eine Tätigkeit in der NS-Raubwirtschaft belastet gewesen.
Das ist klar gelogen: Die Konrad-Adenauer-Stiftung beschönigt die Wahrheit. Und das wissen die Verantwortlichen auch: Die historischen Fakten sind bekannt. Meine Leistung ist nicht, dass ich Forschung betrieben hätte. Ich habe nur das historische Wissen zusammengetragen und lesbar gemacht.
taz Salon: „Deutschland. Ein Wirtschaftsmärchen“. Lesung und Diskussion mit Ulrike Hermann: 19 Uhr, Lagerhaus
Das Bizarre ist ja, dass die Lüge bei Ludwig Erhard überall auftritt, wo man hinguckt. Etwa seine vermeintliche Rolle bei der Währungsreform …
Die Währungsreform war ein alliiertes Konzept, von drei amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern. Und zwar waren zwei von ihnen, das macht die Sache erst recht unerträglich, vor den Nazis geflohene Juden: Diese wahren Väter der Währungsreform kennt in Deutschland keiner. Die werden sozusagen ein zweites Mal enteignet – erst materiell, dann ideell.
Geht es beim Bemühen um eine Korrektur dieses Bildes also vor allem um diese moralische Frage?
Es geht auch um aktuelle Politik: Die Erhard-Legende ist Teil einer allgemeinen Erzählung, zu der auch der Mythos von der Bundesbank und der starken D-Mark gehören. Es wird die falsche Vorstellung genährt, dass Deutschland ganz alleine, ohne amerikanische Hilfe und ohne europäischen Zusammenhalt wirtschaftlich Erfolg gehabt hätte. Dieses Märchen, dass man ohne die Nachbarn vielleicht besser dran wäre, macht jetzt die AfD stark.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen