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Kinderkrankenhaus in der UkraineOchmatdit vor der Zerstörung

Ein russischer Angriff hat ein Kinderkrankenhaus in Kyjiw getroffen. Unser Autor hat es 2019 besucht – und sah ein Schulprojekt der besonderen Art.

Vorher wurden hier Kinder versorgt und unterrichtet: ein Gebäude des Krankenhaus Ochmatdit nach dem russischen Angriff Foto: Oleksandr Ratushniak/reuters

Kyjiw taz | Der folgende Text erschien erstmals im September 2019 in der taz. Wir veröffentlichen ihn hier erneut, um das Leben im Kyjiwer Kinderkrankenhaus Ochmatdit zu zeigen, das ein russischer Raketeneinschlag am 8. Juli zerstörte. Bei den Angriffen auf Kyjiw wurden nach ukrainischen Angaben mindestens 27 Menschen getötet, darunter vier Kinder.

Wer zur „Schule der Superhelden“ im Kyjiwer Kinderkrankenhaus Ochmatdit will, muss ein Tor mit Schlagbaum passieren und ein dreistöckiges grünes Gebäude betreten. Hier werden nicht nur Kinder auf eine Nierentransplantation vorbereitet, sondern auch im Rechnen, Lesen und Schreiben geübt. Eine Schule im Krankenhaus – das ist neu in der Ukraine.

„Schulferien? Nein, da freue ich mich nicht darauf“, erklärt der 15-jährige Maxim. Er ist mit Feuer und Flamme im Mathematikunterricht dabei. Und er löst Aufgaben, bei denen sich auch Erwachsene schwertun würden. Maxim ist krank, so krank, dass er schon seit einem halben Jahr im Kinderkrankenhaus Ochmatdit lebt. Und wenn er etwas an der Tafel erklären will, dann geht die Lehrerin zu seinem Tisch und schiebt ihn liebevoll mit seinem Rollstuhl zur Tafel.

Hier in der Schule des Nationalen Kinderkrankenhauses Ochmatdit in Kyjiw sind Kinder aus vier verschiedenen Abteilungen. Manche von ihnen leben schon sieben Jahre im Krankenhaus. Vieles ist hier anders als an den Schulen, in denen Maxim früher war, irgendwo nicht weit weg von Odessa am Schwarzen Meer. Und hier macht Schule Spaß, ist eine erfreuliche Abwechslung. Hier gibt es keine Hausaufgaben, keine Prüfungen, und wer erschöpft ist, kann sich, ohne fragen zu müssen, einfach auf ein Sofa im Klassenzimmer legen.

„Im Krankenzimmer sehe ich immer wieder nur die weiße Decke, die weißen Wände, habe nur einen Nachbarn, mit dem ich mich unterhalten kann. Und das ist auf Dauer langweilig. Da passiert nichts. Aber hier in der Schule höre ich jeden Tag etwas Neues“, berichtet Maxim. Neben dem Mathematik-Unterricht freut er sich auch über Chemie. Es sei einfach eine Freude, zu sehen, wie sich eine grüne Flüssigkeit auf einmal gelb färbe.

Wie alle Kinder in der Klasse hat auch Maxim eine kleine Pyramide auf seiner Schulbank stehen. Die hat eine gelbe, eine grüne und eine rote Seite. Wer nichts verstanden hat, zeigt den Lehrern die rote Seite der Pyramide. Wer etwas verstanden hat, die gelbe Seite. Maxim hingegen hat meistens die grüne Fläche vor sich.

Weicher Fußboden

Auch das Klassenzimmer ist ungewöhnlich. Der Boden ist weich. Wenn man fällt, kann man sich nicht wehtun. Trotz allem ist die Schule wie eine richtige Schule. Hier gibt es alle Fächer, die es auch an jeder anderen Kyjiwer Schule geben würde: Mathematik, Biologie, Physik, Ukrainisch für alle Jahrgangsstufen.

„Ich bin gerne Lehrerin an der Schule hier am Krankenhaus“, berichtet die Biologielehrerin Natalya Danilenko. Sie gibt zweimal in der Woche Unterricht. „Mit Kindern zu arbeiten, die sich über den Unterricht freuen, ist doch etwas sehr Schönes für einen Lehrer. In keiner anderen Schule sehe ich so viele strahlende Kinderaugen wie hier“, sagt die Lehrerin.

„Kinder, die eine schreckliche Diagnose erhalten haben, kommunizieren weniger. Und bei uns in der Schule haben sie auch Kontakt mit Kindern, die ein ähnliches Schicksal haben. Gleichzeitig tun wir alles, dass die Kinder sich gebraucht fühlen.“

Die Schule der Superhelden wächst. Demnächst wird in Kyjiw bereits eine vierte derartige Schule eröffnet. Neben der Schule im Krankenhaus Ochmatdit gibt es eine Schule der Superhelden in der Kinderonkologie am Krebsinstitut, eine dritte im städtischen Kinderkrankenhaus Nr. 7 und demnächst eine vierte Schule in der Klinik für Verbrennungsopfer. Der Unterricht findet individuell oder in Klassen oder auch als Fernunterricht statt.

Vier Jahre lang habe sie auf die Eröffnung dieser Pilotschule hingearbeitet, berichtet Jewgenija Smirnowa, die Initiatorin der im Oktober 2018 eröffneten Pilotschule am Ochmatdit der taz. Dass die Schule schließlich aufgebaut worden ist, hat man auch der starken medialen Unterstützung des Senders 1+1 und der Fernsehjournalistin Natalia Mosejtschuk von der Initiative „Recht auf Bildung“ zu verdanken.

Mosejtschuk hatte bei der Übertragung der Eröffnung eines Klassenzimmers für HIV/Aids-infizierte Kinder mit einem Spendenaufruf für eine Schule an der Klinik Ochmatdit 20.000 Euro an Spenden gesammelt und damit den Startschuss für die Schule der Superhelden an der Klinik Ochmatdit gegeben.

„Wie oft fahren wir an Krankenhäusern vorbei und sind uns sicher, dass dort den Patienten schon geholfen wird. Aber die Patienten brauchen mehr als nur medizinische Betreuung. Sie brauchen auch das Wort, den Zuspruch, das Gespräch. Vor allem die ganz jungen Patienten“, begründet Natalia Mosejtschuk ihr Engagement. Und am 19. Dezember 2018, in der Ukraine der Tag des Heiligen Nikolaus, hat das Bildungsministerium noch einmal fast eine halbe Million Euro für die Schule der Superhelden gegeben.

Eigentlich Aufgabe des Staats

Zwar sind die am Aufbau der Schule beteiligten Initiativen „Recht auf Bildung“ und „Small heart with Art“ gerne bereit, auch andere Initiativen im Land beim Aufbau derartiger Schulen für kranke Kinder zu unterstützen, so Jewgenija Smirnowa, die Initiatorin der Superheldenschule. Doch eigentlich seien derartige Schulen Aufgabe des Staats. Und deswegen, so Smirnowa, sehen sie und ihre Kollegen im Projekt der Schule der Superhelden eine Pionierleistung, die irgendwann vom Staat in die Hand genommen werden soll.

„Ich war als Kind sehr häufig krank, war immer wieder oft für ein halbes Jahr im Krankenhaus“, erzählt Smirnova. „Und deswegen weiß ich, wie man sich als Kind im Krankenhaus fühlt. Weiß, wie wichtig es für Kinder im Krankenhaus ist, zu sehen, dass man Teil der Gesellschaft ist.“

Smirnova berichtet weiter, dass sie nicht nur unangenehme Erinnerungen an die Krankenhäuser habe. Schließlich habe sie sich im Krankenhaus das erste Mal so richtig verliebt. Evgenia Smirnova arbeitet ehrenamtlich. Viele Lehrer werden aber auch bezahlt. Und die Schule erhält Geld und Unterstützung von Stiftungen, Organisationen, Künstlern.

Um internationalen Standards zu genügen, pflegen die Initiatoren auch einen regen Austausch mit ähnlichen Schulen in anderen Ländern. Insbesondere zu Finnland und Neuseeland habe man guten Kontakt.

In der Ukraine gibt es zwar die allgemeine Schulpflicht. Eltern sind jedoch berechtigt, ihre Kinder selbst zu Hause zu unterrichten. Seit der Bildungsreform vom September 2017 muss man zum Erwerb der Hochschulreife nicht mehr 11, sondern 12 Klassen durchlaufen. Seit der Bildungsreform müssen Schüler in der Regel die Schule ihres Wohngebietes besuchen, haben somit keine freie Schulwahl mehr.

Gewisse „Dankbarkeit“

Dass die Wahl für die Superheldenschule auf die Kinderklinik Ochmatdit gefallen ist, ist kein Zufall. Denn sie selbst ist ein Pilot- und Vorzeigeprojekt. Nicht überall in ukrainischen Krankenhäusern lässt man kranken Patienten so viel Zeit, Geduld und Geld angedeihen, wie hier.

Rein formal ist die medizinische Versorgung in der Ukraine zwar für die gesamte Bevölkerung kostenlos. In der Praxis jedoch kann niemand eine korrekte Behandlung erwarten, wenn er sich nicht Ärzten und Krankenschwestern gegenüber finanziell erkenntlich zeigt. Immer wieder werden auch schwer Krebskranke von einer Klinik nicht aufgenommen, wenn erkennbar ist, dass sie nicht in der Lage sind, eine gewisse „Dankbarkeit“ zu zeigen.

Und so wird nur behandelt, wer auch das nötige Kleingeld hat – oder wer es geschafft hat, in ein Projekt zu kommen, das eine große mediale Aufmerksamkeit genießt – wie die Schule der Superhelden.

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1 Kommentar

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  • Wer noch immer an Gott glaubt, der kann doch nicht mehr bei Sinnen sein.