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Reaktionen auf britische ZwangspauseEs wird knapp

Brexit-Gegner hoffen auf eine Dringlichkeitsdebatte und einen Gesetzesantrag. Den müsste allerdings erst die Königin absegnen.

Anti-Brexit-Aktivistin Gina Miller (rechts), flankiert von einer Mitkämpferin Foto: ap/Kirsty Wigglesworth

Die Wut ist groß, aber damit musste Boris Johnson rechnen. Der britische Premierminister hat sich am Mittwoch die Genehmigung von der Königin geholt, das Parlament zu supendieren, acht Tage nachdem die Abgeordneten am kommenden Dienstag aus der Sommerpause zurückkehren werden. Es soll erst am 14. Oktober zur Verlesung des Regierungsprogramms durch die Königin wieder zusammentreten.

Johnson will mit der „Prorogation“, wie die Beurlaubung des Parlaments heißt, verhindern, dass ihm die Abgeordneten in seinen Plan für den Ausstieg aus der EU am 31. Oktober dazwischenfunken. Das ist zwar legal, hat aber mit Demokratie nichts zu tun, finden 70 Prozent der Bevölkerung, wie die Blitzumfrage einer Boulevardzeitung ergeben hat.

Der Widerstand gegen diese Maßnahme hat sich schnell formiert. Am Mittwochabend versammelten sich Tausende vor dem Parlamentsgebäude in Westminster. Auch in anderen britischen Städten kam es zu spontanen Demonstrationen. Für das Wochenende haben die Organisatoren weitere Großdemonstrationen angekündigt. Bis Donnerstagmorgen hatten bereits 1,2 Millionen Menschen eine Petition unterzeichnet, mit der Johnson aufgefordert wird, die Suspendierung zurückzunehmen.

Mehrere Menschen haben gerichtliche Schritte eingeleitet, um die Suspendierung auf juristischem Weg zu stoppen, darunter der frühere Tory-Premierminister John Major sowie die Geschäftsfrau und Anti-Brexit-Aktivistin Gina Miller. „Das Schockierende daran ist die absolut feige Art, diese Maßnahmen einzusetzen“, sagte sie. Miller hatte bereits 2017 ein Verfahren gegen die Regierung gewonnen, bei dem es um die Rechte des Parlaments bei der EU-Austrittserklärung ging.

Königin muss Antrag absegnen

John Bercow, Unterhaussprecher und Tory, der eigentlich zu politischer Neutralität verpflichtet ist, bezeichnete Johnsons Taktik als „konstitutionellen Skandal“. Die Gegner des Brexit hoffen darauf, dass er nächste Woche eine Dringlichkeitsdebatte anberaumt. Sollte dabei ein Gesetzesantrag angenommen werden, muss das Oberhaus darüber in einer Notstandssitzung am übernächsten Wochenende entscheiden. Die Königin müsste den Antrag dann aber vor Suspendierung des Parlaments absegnen, ansonsten verfällt er. Sollte Bercow keine Dringlichkeitsdebatte zulassen, bliebe für ein Gesetz zur Verhinderung eines harten Brexit kaum Zeit.

Labour-Chef Jeremy Corbyn sagte, die sechs Oppositionsparteien werden nächste Woche so schnell wie möglich handeln. „Zuerst wollen wir das Gesetz auf den Weg bringen, und zweitens werden wir dann einen Misstrauensantrag stellen“, sagte er. Doch selbst wenn Johnson den Misstrauensantrag verliert, was keineswegs sicher ist, wird er Neuwahlen erst nach dem vollzogenen Brexit am 31. Oktober ansetzen, sagte einer seiner Berater.

Jo Swinson, Chefin der Liberalen Demokraten, sagte, die Abgeordneten könnten eine „obskure und ungewöhnliche legislative Route“ einschlagen, um einen harten Brexit zu verhindern. Was sie damit meinte, ist unklar. Eine Gruppe, die sich aus Mitgliedern aller Parteien zusammensetzt, untersuche derzeit, wie man das bewerkstelligen könnte, sagte sie lediglich. Die Regierung setze auf eine noch nie dagewesene Taktik, und das könne man auch, fügte sie hinzu.

Johnson spricht von „genügend Zeit“

Die walisische Regionalparlament wird für eine Sonderdebatte über die „konstitutionelle Krise“ am 5. September frühzeitig aus dem Urlaub gerufen, sagte der walisische Regierungschef Mark Drakeford. Die schottische Regierung wird ebenfalls ab Montag darüber beraten. Die schottische Tory-Chefin Ruth Davidson, die voriges Jahr sogar als britische Premierministerin gehandelt wurde, hat auch wegen ihrer Differenzen mit Johnson ihren Rücktritt erklärt.

Und Johnson? Er erklärte den Abgeordneten am Donnerstag in einem Brief, dass die Suspendierung es ihm ermögliche, sich auf die Finanzierung des Nationalen Gesundheitsdienstes und auf die Bekämpfung von Gewaltverbrechen zu konzentrieren. Im Übrigen werde das Parlament noch „genügend Zeit“ haben, über den Brexit zu debattieren.

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