piwik no script img

Neue SPD-Fraktionspitze in BremenKontinuierlich männlich

Die Bremer SPD verpasst die historische Chance, eine Frau an die Spitze ihrer Bürgerschafts-Fraktion zu wählen. Gewählt wurde dafür Mustafa Güngör.

Mustafa Güngör ist der erste Bremer SPD-Fraktionschef mit Migrationshintergrund Foto: SPD-Fraktion

Bremen taz | An der Spitze der SPD-Fraktion in der Bremischen Bürgerschaft steht auch nach fast 120 Jahren weiterhin ein Mann: Bei der Wahl am Montag setzte sich mit zwölf zu elf Stimmen der bisherige Fraktionsvize Mustafa Güngör gegen Parlamentsvizepräsidentin Antje Grotheer durch. Die Abstimmung war notwendig geworden, weil der bisherige Fraktionsvorsitzende Andreas Bovenschulte nun Bürgermeister ist. Güngörs StellvertreterInnen sind der Ex-Senator Martin Günthner und Petra Krümpfer aus Gröpelingen.

Der 43-jährige Politologe und selbstständige IT-Unternehmer Mustafa Güngör kommt aus dem Stadtteil Osterholz und trat 2000 in die SPD ein. Seit 2007 sitzt er für die Sozialdemokraten als Abgeordneter im Parlament; dort versieht er seither einen Posten als bildungspolitischer Sprecher. Er ist der erste Abgeordnete mit Migrationshintergrund, der SPD-Fraktionschef in Bremen werden durfte: Seine Eltern gehören zur ersten Generation der sogenannten Gastarbeiter und stammen aus der Türkei.

Güngör möchte nun die Bremer SPD stärker profilieren: „Wir müssen nicht nur inhaltlich deutlich machen, wofür wir stehen, sondern vor allem auch verstärkt den Kontakt zu den Menschen in Bremen und Bremerhaven suchen“, sagte er nach seiner Wahl. Er verstehe die Fraktion „als Bindeglied“ zwischen den Interessen der BürgerInnen und dem Parlament. Die Probleme der Menschen müsse man „ernst nehmen“ und gleichzeitig vermitteln, „wie wir das Leben in unseren beiden Städten weiter verbessern wollen, so Güngör.

2016 hatte er sich schon mal vergeblich für höhere Weihen beworben: Als die Partei damals ihren Landesvorsitz neu zu vergeben hatte, unterlag Güngör deutlich gegen Sascha Aulepp. Bei einer Mitgliederbefragung entfielen auf sie rund 65 Prozent der gültigen Stimmen, Güngör erhielt nur rund 29 Prozent.

Lauter Spitzenmänner

So wie die Bremer CDU hatte auch die SPD bisher nur Männer an der Spitze ihrer Parlamentsfraktion. Im Detail waren dies:

1900-1905 Friedrich Ebert

1905-1919 Hermann Rhein

1922–1933 Emil Theil - er war 1921-1922 Fraktionschef der USPD, als Nachfolger von Rudolph Künkler, der die USPD-Fraktion 1920–1921 führte.

1946 August Hagedorn

1946–1951 Carl Stockhinger

1951–1968 Richard Boljahn

1968–1971 Gustav Böhrnsen

1971–1975 Walter Franke

1975–1979 Egon Kähler

1979–1985 Klaus Wedemeier

1985–1987 Konrad Kunick

1987–1995 Claus Dittbrenner

1995–1999 Christian Weber

1999–2005 Jens Böhrnsen

2005–2009 Carsten Sieling

2009–2019 Björn Tschöpe

2019 Andreas Bovenschulte

Überregionale Bekanntheit erreichte Güngör mit einem Foto, das er im April bei Twitter postete. Es zeigt ihn mit dem AKP-Politiker Mustafa Şentop, Vize-Präsident der Großen Türkischen Nationalversammlung. Güngör dankt ihm „für seine Gastfreundschaft und die Aufmerksamkeit für die Probleme unserer Bürger in Deutschland“. Im Hintergrund lächelt dazu huldvoll Präsident Recep Tayyip Erdoğan.

Jura-Professor Şentop war einst Leiter jener Kommission, die die umstrittene Verfassung ausarbeitete, mit der Erdoğans Macht erheblich ausgebaut wurde. Schon im Februar 2018 hatte die taz über Güngörs Auftritt bei der Union europäisch-türkischer Demokraten (UETD) berichtet. Die Erdoğan-nahe NGO hat das erklärte Ziel, eigene Leute in deutschen Parlament zu platzieren. Güngör weist jedoch stets jeden Vorwurf der Nähe zur AKP von sich.

Antje Grotheer hatte als Vorsitzende des Untersuchungsausschusses Krankenhauskeime von sich reden gemacht, mehr aber noch in ihrer kurzen Amtszeit als Parlamentspräsidentin: In ihrer Abschlussrede kritisierte sie die rechtspopulistische AfD als Motor der sprachlichen Verrohung. Mit dem Einzug der AfD in Fraktionsstärke erlebe das Bremer Parlament eine Zäsur, so Grotheer: „Wir haben damit Vertreter einer Partei unter uns, die wiederholt unsere Werte – Menschenwürde, Gleichheit, Solidarität, bis hin zur Demokratie und sogar Meinungsfreiheit – infrage stellt und verhöhnt.“

Als Reaktion verließen die AfD-Abgeordneten kurz nach Beginn der Sitzung den Plenarsaal. Grotheer bleibt nun Vizepräsidentin der Bürgerschaft. „Jetzt geht es darum, gemeinsam dafür zu sorgen, dass wir als Fraktion konstruktiv für unsere beiden Städte arbeiten“, sagte sie nach ihrer Niederlage.

Auch die Fraktion der Linkspartei wählte am Montag eine neue Spitze – sie wird künftig von Sofia Leoniadakis, 35, und Nelson Janßen, 28, gemeinsam geführt. Beide wurden einstimmig gewählt, Miriam Strunge und Klaus-Rainer Rupp sind ihre StellvertreterInnen. Die Wahl war notwendig geworden, weil die langjährige Fraktionschefin Kristina Vogt nun Wirtschaftssenatorin ist.

Zwar spricht die Geschäftsordnung der Bremischen Bürgerschaft ebenso wie das Bremisches Abgeordnetengesetz von dem oder der Fraktionsvorsitzenden im Singular. Doch die Linksfraktion hatte schon 2007 bis 2011 eine gleichberechtigte Doppelspitze: Monique Troedel und Peter Erlanson.

Fraktionsvorsitzende bekommen laut Abgeordnetengesetz zusätzlich zu ihrer monatliche Entschädigung von 5.154 Euro nochmals „150 vom Hundert“ hinzu, also insgesamt 12.886 Euro im Monat. Nelson Janßen und Sofia Leonidakis müssen sich dieses Geld allerdings teilen, während Grotheer als Parlamentsvize-Präsidentin ebenso wie stellvertretende Fraktionschefs nur einen halbierten Zuschlag bekommt, also 9.020 Euro.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!