: Tief im Westen
Timo Jakob ist ein Nostalgiker. Er kocht sein Teewasser im Kessel und hat ein Telefon mit Wählscheibe, er hätte es auch gerne, dass im Ruhrgebiet wieder Kohle gefördert wird. So konsequent ist er, dass er jetzt sogar Bergmann wird
Aus Dortmund Marie Eickhoff (Text) und Anna Spindelndreier (Foto)
Hinter der Tür hängen Warnwesten, auf dem Schrank liegen Schutzhelme. „Grubenwehr Gneisenau“ steht auf einem. Ein Erinnerungsstück, das in dieser Zeche in Dortmund nicht mehr zum Einsatz kommen kann, denn sie wurde schon in den achtziger Jahren geschlossen. Der, in dessen Zimmer solche Relikte verwahrt werden, heißt Timo Jakob. Er besitzt auch einen Grubenarbeitsanzug aus den 20ern. Manchmal fährt er damit in der U-Bahn, erzählt in Schulen von seinem Beruf oder leitet Führungen übers Zechengelände.
Das macht er aber nicht allein, um die Erinnerung an den Steinkohlebergbau im Ruhrgebiet wach zu halten, nachdem am 21. Dezember 2018 in der Bottroper Zeche Prosper-Haniel das letzte Stück Kohle Deutschlands zutage befördert wurde. Es geht Jakob auch um das Hier und Jetzt. Sein Hier und Jetzt. Denn Bergmänner gibt es noch, und Jakob ist dabei, einer zu werden. In einem international tätigen Schachtbauunternehmen macht er, 22 Jahre alt und in Dortmund lebend, eine Ausbildung zum Bergbautechnologen mit Fachrichtung Tiefbau. Das bedeutet, dass er Schächte baut und wartet.
Im Untertagebau werden in Deutschland auch nach dem Ende des Kohlebergbaus unter anderem Salz, Erz, Kali, Graphit und Schiefer gefördert. Es werden Schächte gebraucht. Timo Jakob lernt, wie man sie baut.
Dass er es dabei niemals mit Steinkohle zu tun haben wird, schmerzt ihn. Er sagt, für ihn wäre es das Allerschönste, wenn der Bergbau, an dem im Ruhrgebiet immer noch viele hängen, wieder aufleben würde. Eine Idealisierung, sicher auch gespeist aus dem Wohlstand und der Bedeutung, die er der Region gegeben hat. „Alle sagen: Das ist richtiger Bergbau. Und ich weiß nicht, wie es ist.“ Dabei ist ihm der Umweltaspekt egal, die Diskussion um einen vollständigen Ausstieg auch aus der Kohleverstromung. „Juckt mich nicht“, sagt er, „das ist mein Arbeitsplatz. Das juckt da keinen mitte Umwelt.“ Klingt so, als grabe er in Wahrheit doch noch Steinkohleschächte, als komme er davon einfach nicht los.
Ganz gut, dass er seine Einzimmerwohnung für sich gestalten kann, als lebe er noch im Steinkohlezeitalter. Als rauchten draußen die Schlote. Drinnen jedenfalls pfeift ein Teekessel, wenn das Wasser kocht. Am Bett steht ein Telefon mit Wählscheibe, Jakob freut sich, dass er nie weiß, wer anruft. Früher hatte alles noch mehr Stil und Charme, findet er. In einer Ecke des Zimmers sammelt er Mützen – von Seemännern, der Marine und Eisenbahnern. Leere Flaschen hat er da stehen, 4711-Flacons, daneben mehrere Öllampen. An einem Nagel baumelt eine alte Kamera. Einen Fernseher hat er nicht, er liest lieber oder hört Hörspiele, das ist so „völlig entschleunigend“.
Aus dem Heute stammt nur sein Smartphone, das hat er aber auch nur, um seiner Leidenschaft fürs Früher Raum in Bildern zu geben. Vier Instagram-Accounts bespielt er mit Bildern – einen mit Fotos aus dem Ruhrpott, einen mit Bildern zu Kohle, Stahl und Eisenbahn, einen im Seemannsstil und einen mit Fotos im 20er-Jahre-Look. „Alte Technik muss bewahrt werden, damit die nächsten Generationen wissen, was früher abging.“
Timo Jakob war immer in der Außenseiterecke, das sagt er selbst. „Entweder du bist normal oder anders und verpönt.“ Schon als er Kind war, damals im südwestfälischen Anröchte, an der Grenze zum Sauerland, sei er immer aufgefallen mit seinen Looks. In der Schulzeit etwa hatte er eine Fifties-Phase, trug Karohemden und Elvis-Tolle. Das gefiel nicht jedem, aber er fiel auf und spürte: „Viele respektieren dich.“
Er hat dann verschiedene Outfits getestet, das half ihm auch, sich selbst besser kennenzulernen, sagt er. „Ich habe viel ausprobiert, was ich bin.“ Heute fühlt er sich am wohlsten im Dress der 20er, mal in seinem Bergmannoutfit, mal als Seemann, gerne auch in Hut und Trenchcoat beim Swingtanz. „In jeder Rolle die passende Figur, wat?“ Das kommentiert jemand unter einem Bild von Timo auf Facebook. Welche der Rollen ist der echte Timo? „Das bin alles ich“, sagt er.
Als er Teenager war, haben sich seine Eltern getrennt. Er machte einen Realschulabschluss, arbeitete im Paketlager und wollte Maschinenmechatroniker werden. Ein Erlebnis aus der Schule konnte er aber nicht vergessen. Im Dezember 2015 hatte ihm ein Lehrer erzählt, dass die Zeche Auguste Victoria in Marl zugemacht wird. Das berührte ihn, obwohl Bergbau zu der Zeit noch gar nicht sein Thema war, er engagierte sich bei der Museumseisenbahn in Hamm. „Ich war traurig und wusste nicht, woher das kommt.“ Es ging dann ganz schnell, zum Interesse für Eisenbahnen kam die Lust auf Bergbau, bald wollte er Bergmann werden.
Er zieht eine kleine Blechdose zu sich herüber. „Auch eine Prise?“ In der Dose ist Schnupftabak, also gemahlener Tabak mit Öl. Den braucht er, weil der Staub unter Tage angeblich die Nase zusetzt. Auch wenn er gerade nicht im Schacht arbeitet, nimmt er zwischendurch eine Portion, „damit die Nase es sich nicht abgewöhnt“.
Was fasziniert ihn so an der Arbeit unter Tage? Die völlige Dunkelheit zum Beispiel, „unvorstellbar“, immer wieder; oder das Miteinander der Kumpels. Geht es bei der Bergmannsarbeit denn immer so kumpelmäßig, freundschaftlich zu? „Man hat sich anne Köppe, aber muss sich danach wieder vertragen“, sagt er.
Wenn er in den Schacht fährt, betet Timo Jakob immer kurz zur heiligen Barbara, die am Schacht steht. Nur einen Sekundenbruchteil, sagt er. Dabei grüßt er sie mit einer schnellen Geste. Jedes Mal, wenn er an ihr vorbeigeht, hält er dafür kurz inne, und auch während der Schicht denkt er manchmal an sie. Die heilige Barbara ist die Heilige der Bergleute und beschützt ihn und die Kumpels im Schacht, daran glaubt er. Ob hinter ihrem Schutz Gott steckt, weiß er nicht. „Ich nenn es immer ‚lieber Gott‘.“ Wobei er sich sicher ist: Wenn er die heilige Barabara – oder „Babsi“, wie er sie nennt – nicht grüßt, ist sie zickig. Das riskiert er nicht.
An einem Nagel an der Wand hängt eine Kette. Daran drei Anhänger: ein Anker, ein Herz, ein Kreuz. Das Kreuz steht für Timo für den Glauben an sich selbst. Der Anker für die Hoffnung, dass er immer gesund und munter aufwacht. Und das Herz symbolisiert für Timo Liebe. Die Liebe zu seinen Eltern, seinen Freunden und vor allem zu seiner kleinen Schwester. Die ist erst 10, und er ist sehr glücklich darüber, sie aufwachsen zu sehen. Mit ihr kann er Brettspiele wie Dame spielen und immer, wenn er sie besucht, hat er eine kleine Überraschung für sie in der Tasche. Zum Beispiel ein Stück Kohle. Kleine Kohlestücke und andere besondere Schätze aus dem Boden stehen in Schälchen auf seiner Fensterbank. Bergmannsdeko.
Richtig frei fühlt sich Timo Jakob am Meer. Da, wo es keine Dimensionen gibt, er auf die unbegrenzte Weite des Wassers gucken kann. Wenn er nach Hamburg ans Wasser fährt, nimmt er immer einen Satz Arbeitssachen mit. Schon oft hat er auf Schiffen am Hafen mit angepackt, wenn er da war. Er ist dann nicht verkleidet, es ist ihm ernst. Er packt immer mit an, wo es Arbeit zu tun gibt.
Früher ist er gerne Fahrrad gefahren. „Ich war mit meinem Fahrrad so glücklich.“ Kilometerlang glücklich. Mittlerweile habe er sich an die „blöde U-Bahn“ in Dortmund gewohnt. Die hat seit Jahren dieselben dicken, karierten Polstersitze. Auch so Originale. Sonntags fährt Jakob manchmal mit einem seiner Schifferklaviere rum und macht Musik in der Stadt. Spielen kann er es nicht richtig. Er beherrscht nur das, was er sich selbst beigebracht hat. Dabei spielt er nach Gehör, ein bisschen schief, aber fürs Steigerlied der Bergleute reicht’s – „Glück auf, Glück auf, der Steiger kommt …“. Den Gruß der Bergleute benutzt Timo Jakob wie Hallo und Tschüs, er ist aber viel mehr als nur ein eingeübter Gruß. Er drückt damit auch den Wunsch aus, ernst und hoffnungsvoll, dass er immer heile von der Arbeit im Schacht zurückkommt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen