Vergangenheit gut gemacht

Sie darf nicht auf die Schule, wird mit 15 das erste Mal schwanger. Heute hat Svetlana Kostic sechs Kinder, studiert und hat noch einige Pläne. Zu Besuch bei einer Frau mit Mut

Zu Hause: Svetlana Kostic in ihrem Wohnzimmer, Berlin

Von Ann Esswein
(Text) und Felie Zernack (Fotos)

Svetlana wollte immer lernen, durfte aber nicht. Heimlich musste sie ihre Hausaufgaben machen. Später paukt sie, mit vier Kindern an ihrer Seite. Jetzt hat die Berlinerin das Abitur und will Menschenrechtlerin werden.

Draußen: Eine Fußgängerzone wie in einer bayerischen Vorstadt, in Wirklichkeit in Berlin. Kinderwagen rollen über Pflastersteine. Eine Platanenallee. Davor ein Wohnhaus, Balkone mit Satellitenschüsseln.

Drinnen: Eine verwinkelte Vierzimmerwohnung. Ein Hund schlittert über das Parkett. Links geht es ins Wohnzimmer. Die Wand hängt voll von Familienbildern. Durch die offene Balkontür hört man einen Brunnen plätschern. In der Küche riecht es nach Mittagessen.

Svetlana Kostic: Sie trägt türkisfarbenen Lidschatten, ein goldenes Nasenpiercing, hat schwarze Locken und räumt den Tisch ab. Auf ihrem Arm steht tätowiert: Yes, I can! Sie ist Abiturientin, Studentin, 38 Jahre alt, Mutter von sechs Kindern, auch „Arbeiterkind“, sagt sie.

Umwege: Svetlana Kostic ist in Schöneberg, dem schönen Stadtteil von Berlin, geboren. Ihre Eltern kamen in den 70er Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland. Deren Priorität: schnell Geld verdienen und zurück nach Serbien, dort ein Haus bauen. Die Erinnerung an die Kindheit ist dunkel und still. Man isst, was auf den Tisch kommt. Wünsche sind nicht erlaubt, und es gibt nichts zu lachen.

Das andere Zuhause: Weil ihre Mutter überfordert ist, wächst Svetlana Kostic bei einer Tagesmutter auf, mit richtigen Weihnachten, Ostern, Berührungen und Fischstäbchen. „Da war ich Kind.“ Wenn sie abends nach Hause kommt, spricht sie Deutsch, nicht die Muttersprache. Heimlich macht sie dann auch ihre Hausaufgaben, für ihre Eltern Zeitverschwendung. Sie muss mithelfen. Ihre Eltern erlauben ihr später auch nicht, aufs Gymnasium zu gehen.

Das erste Mal abgehauen: Als sie 14 Jahre alt ist, sagen die Eltern: „Du könntest bald heiraten.“ Svetlana Kostic denkt zu dieser Zeit: „Leckt mich am Arsch, wenn ich heiraten soll, dann suche ich mir selbst jemanden aus.“ Mit einem Freund ihres Cousins „brennt sie durch“. In ihn ist sie verliebt, zumindest hat „es gepasst“. Sie packen ihre Sachen, hauen ab und kommen bei seiner Schwester unter. Nach ein paar Tagen stellen sie sich, nun traditionell verheiratet, den Eltern. „Sie waren froh, dass ich zumindest der Tradition meiner Familie gefolgt bin und nicht im Heim landete.“

Druck: Aber es wird nicht besser, es wird schlimmer. So jung, ein Teenager, zieht Svetlana Kostic zu den Schwiegereltern, muss funktionieren, kochen, auch für Besuche, darf nicht mehr in die Schule und wird schwanger. Sie ist 15, als ihr erstes Kind auf die Welt kommt. Schwanger mit dem zweiten Kind, erfährt sie körperliche Gewalt. Nasenbrüche sind Normalität. „Ich erinnere mich nicht gerne.“ Wenn sie mit der S-Bahn durch Neukölln fährt, würden manchmal Tränen fließen. Sonst sei das Kapitel abgeschlossen.

Umgeben von Erinnerungen: Familienbilder bedecken die Wände

Wieder abhauen: Als Svetlana Kostic flieht, sagen die Schwiegereltern: „Du nimmst die Kinder nicht mit, sonst bringen wir dich um.“ Die eigene Familie meint: „Das sind deren Kinder.“ Frauenhäuser hätten in dieser Zeit Angst gehabt vor diesen anderen Kulturen. Sie sprechen von Ehrenmord. Das Jugendamt sagt: „Du hast keine Chance gegen die Sippe.“ „Ich musste einfach kapitulieren“, sagt Svetlana Kostic, und heute: „Wenn ich dortgeblieben wäre, wäre ich nicht mehr am Leben“.

Die neue Liebe: Sie schlägt sich mit Jobs durch, Putzen, Gastro, Bäckerei. In einem amerikanischen Restaurant lernt sie auch ihren nächsten Mann kennen. Eine Fernbeziehung zwischen Berlin und New York. Er ist da bei der Geburt des ersten gemeinsamen Kindes. Dann kommt das zweite, das dritte. Svetlana Kostic dachte: Alles ist gut, er schlägt dich zumindest nicht. Heute sagt sie: Er war besitz­ergreifend, er isolierte sie. Svetlana Kostic spricht von „psychischer Gewalt“.

Mutter sein: 2008 will sie das Abitur machen. Dann kommt das vierte gemeinsame Kind wie ein Zeichen: „Du bleibst Mutter“, erzählt Svetlana Kostic und schielt auf die Uhr. „Einer der Großen muss schnell den Kleinen abholen.“ In Pantoffeln schlurft sie über das Parkett, als sie durch die Kinderzimmer geht. Das für die Mädchen ist rosa gestrichen. Der Älteste hat ein eigenes Musikstudio in seinem Zimmer. Svetlana Kostic schläft mit dem Jüngsten in einem Hochbett, sie unten, er oben. Im Gang: steht ein Abstelltisch mit Schmuck und Nagellack, Dingen, die ihr früher verwehrt blieben.

Ein neuer Anlauf: Fast zur gleichen Zeit, als Svetlana Kostic sich nach fünfzehn Jahren Beziehung trennt, entschließt sie sich, wieder in die Schule zu gehen. Sie macht ihre Hausaufgaben am selben Küchentisch wie die Kinder. Manchmal sitzt sie hier noch bis spätnachts, bei Kaffee und Keksen, und weint. Um sechs Uhr morgens schmiert sie Pausenbrote für sich und ihre Kinder. Auf dem Spielplatz sagt sie zu ihnen: „Jetzt reicht es, ich muss nach Hause, ich muss noch Hausaufgaben machen.“ Svetlana Kostic lehnt die Arme auf den Küchentisch. „Wir mussten alle Abstriche machen.“

Durchziehen: „Vorher war ich eine typische Hausfrau.“ Dann habe sie gelernt, nicht mehr so pingelig zu sein: Kuchen vom Supermarkt und kein Lebkuchenhaus an Weihnachten. „Ich habe jede Chance für einen kurzen Schlaf genutzt“, egal ob in der U-Bahn oder beim Physiotherapeuten. Ob sie jemals daran gezweifelt habe? „Nein“. „Ich durfte nie zur Schule gehen.“ Nur sie könne ihre Vergangenheit wiedergutmachen.

Visitenkarten: Um sie zu ermutigen, schenkt ihr eine Klassenkameradin einen Umschlag, „für schlechte Zeiten“. Sie öffnet ihn, als sie über den Mathehausaufgaben verzweifelt. Darin: Visitenkarten mit ihrem Namen: Svetlana Kostic, Psychologin, und Svetlana Kostic, Psychotherapeutin. Aber sie weiß schon, was auf ihrer zukünftigen Karte stehen soll.

Yes, I can!: Tattoo auf dem Unterarm von Svetlana Kostic

Der Traum: Im Wohnzimmer an der Wand hängt ein Bild, 2013, ein leerer Sitzungssaal in den Vereinten Nationen in New York. Dort wolle sie hin: „Ich backe kleine Brötchen.“ Schon beeindruckend war es, in der Universität zu sein, das Gefühl: „Oh, du bist jetzt Studentin. Du darfst hier sitzen“, erzählt sie mit der flachen Hand auf der Brust. Soziale Arbeit studiert sie. Im Master soll es um Menschenrechte gehen.

Stolz: Als sie das Abiturzeugnis in der Hand hält, weiß sie, dass es das wert war: den Stress, dass sie 20 Kilogramm zugenommen hat, die ihr Knieschmerzen machen, die Gastro-Jobs, endlose YouTube-Videos, um die Dinge verstehen zu können, die anderen Mütter, die sie belächelten und sagten, sie würde sich selbst verwirklichen auf Kosten ihrer Kinder. Sie hat das Gefühl, trotzdem allen gerecht geworden zu sein.

Aufatmen: Svetlana Kostic lehnt die Arme auf die Sessellehne. Im Hintergrund steht ein Kamin­imi­tat, wie aus einem amerika­ni­schen Weihnachtsfilm, darüber Porträts ihrer Kinder in weißen Herzchenbilderrahmen. „Es sei gut gelaufen“ mit den Kindern, „für die Umstände“, sagt Svetlana Kostic, dann kommt der Sohn nach Hause, lehnt gegen den Sessel, schleckt an einem Eis und fragt sie: „Kommst du jetzt ins Fernsehen?“

Und in zehn Jahren: Da möchte sie in einem spartanischen Häuschen in Harlem wohnen, mit Hollywoodschaukel und Terrasse. Sie würde bei den Vereinten Nationen arbeiten und sich für Bildungsprojekte für Frauen einsetzen. „Wenn ich was in der Hand habe, ein Abitur, einen Bachelor, dann kann ich das allein, ohne Mann“. Sie kann es kaum erwarten.