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Die Äpfel der Kindheit

OBST Herbst ist’s, und im Supermarkt liegen die Äpfel. Aber nur zwanzig Sorten – wer andere will, muss handeln. Das Apfelnetzwerk weiß, wie

Apfelleidenschaften

Das Netzwerk: Seit 2. Oktober sortieren und digitalisieren Apfelexperten die Daten von rund 950 Apfelsorten aus ganz Deutschland. Spätestens ab Mitte nächsten Jahres kann man auf www.deutsche-gendatenbank-obst.de seinen Lieblingsapfel ausfindig machen und sich einen Reis davon bestellen.

Das Veredeln: Der Reis, ein einjähriger Zweig des Apfelbaums, der veredelt werden soll, und der Wurzelstamm eines verwandten Baums werden schräg abgeschnitten, noch vor Frühlingsbeginn aufeinandergesetzt und mit einer Folie verbunden. Im Juli kann man die Folie dann abnehmen und hat einen neuen Baum.

Der Most: In der Mosterei werden die Äpfel zunächst in der „Rätzmühle“ zu Maische zerkleinert. Eine Presse trennt dann mit 300 bar Druck den Saft von der musigen Apfelmasse. Nachdem eine Zentrifuge den Saft noch gereinigt hat, wird er auf 75 Grad erhitzt und schließlich in Flaschen abgefüllt. Aus Obst ist jetzt Saft geworden.

VON MARIA ROSSBAUER

Wenn meine Eltern früher Äpfel gemostet haben, war das ganz schrecklich. Jeden Herbst ging es wieder los: sie sammelten alle Äpfel aus dem Garten zusammen, spülten alte Weinflaschen aus, fuhren zur Mosterei und kamen mit hunderten Flaschen klebrig-süß schmeckendem Apfelsaft zurück. Von da an gab es kein Entkommen: Bis aller Saft getrunken war, und das konnte sich über Monate ziehen, wurde kein Orangensaft, geschweige denn Limonade mehr gekauft, denn „es gibt doch noch Apfelsaft“.

Der Luxus, selbst gemosteten, konservierungs- und schadstofffreien Saft zu konsumieren, war mir als Kind nicht bewusst. Mittlerweile bin ich erwachsen, weit weg von zu Hause, und plötzlich erscheint mir der Apfelsaft meiner Eltern als Konzentrat von Heimweh und Glückseligkeit. Ich wünsche mir den klebrig-süßen Geschmack zurück.

Ich rufe also meinen Vater an und frage ihn, wie der Apfel meiner Kindheit heißt, damit ich ihn mir besorgen kann. Gravensteiner, meint er. Aber zu kaufen gäbe es den nicht wirklich. Stimmt, im Supermarkt finde ich nur Granny Smith und Jonagold, mein gelblich-rotes Nostalgieobjekt ist nicht dabei. Doch mein Ehrgeiz ist entfacht, jetzt will ich ihn auch haben. Es muss doch eine Möglichkeit geben, meinen Apfel wieder zu bekommen.

„Kein Problem“, sagt Henryk Flachowsky, „ich schick Ihnen den Reis zu.“ Wie jetzt Reis?, denk ich mir, ich wollte doch einen Apfel, den Gravensteiner. Nein, nein, das sei schon richtig, meint Flachowsky, mit dem Reis könne ich in eine Baumschule gehen, ihn veredeln lassen, und im Frühjahr hätte ich dann einen Gravensteiner-Apfelbaum. Meinen eigenen kleinen Apfelbaum, mit Äpfeln wie zu Hause – klingt nach einem idyllischen Gartenparadies mitten in Berlin. Toll. Also: was muss ich tun? Und wieso funktioniert das eigentlich? Flachowsky erklärt es mir.

In Deutschland gebe es mindestens 1.000 verschiedene Apfelsorten, aber nur maximal 20 in den Supermärkten zu kaufen. Die restlichen Sorten finde man in Gärten, alten Schulhöfen oder Klöstern. „Früher gab es wahrscheinlich noch viel mehr Apfelsorten“, sagt Flachowsky. Er meint, das Sortensterben sei eine ganz normale historische Entwicklung: Alte Gärten werden abgerissen, Bäume gefällt und nicht nachgepflanzt. Und die Industrie konzentriere sich eben nur auf einige wenige Apfelsorten, die einfach zu pflegen, gut in Massen anzubauen und vor allem ertragreich sind.

Um das weitere Aussterben von Apfelsorten zu verhindern, haben sich sieben Forschungsinstitute, Ämter und private Organisationen, die alle Sammlungen von verschiedenen Apfelbäumen besitzen, zusammengeschlossen und das Apfelnetzwerk gegründet. Gemeinsam wollen sie nun im Auftrag der Bundesregierung ihre Apfelsorten genau auflisten und dafür sorgen, dass kein weiterer Apfel in Deutschland mehr ausstirbt.

Das alles organisiert Henryk Flachowsky. Er ist Agrarwissenschaftler am Julius-Kühn-Institut in Dresden, dem Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen. Flachowsky selbst isst am liebsten säuerliche, grüne Äpfel, mein Gravensteiner gehört da eher nicht dazu. Flachowsky ist dafür zuständig zu koordinieren, dass jede der 950 im Netzwerk eingetragenen Apfelsorten an mindestens zwei Orten in Deutschland steht. „Falls in einer Apfelplantage mal eine Krankheit ausbricht und die Bäume sterben, gibt es immer noch einen Baum von der Sorte irgendwo anders in Deutschland“, sagt Flachowsky. So könne man sichergehen, dass die Sorte in jedem Fall überlebt. In seinem Institut stehen etwa 750 unterschiedliche Apfelbäume, es ist die größte deutsche Sammlung.

Seit letzter Woche fügen Flachowsky und seine Mitarbeiter alle Daten über die Apfelsorten aus ganz Deutschland in die neue Apfelabteilung der „Deutschen Gendatenbank Obst“ ein. Spätestens Mitte nächsten Jahres könnte ich sogar selbst online nachsehen, wer meinen Apfel hat und wie ich ihn kriege. So lange muss ich mich auf Flachowskys Gedächtnis und Listen verlassen.

„Früher gab es wahrscheinlich noch viel mehr Apfelsorten“

HENRYK FLACHOWSKY, APFELNETZWERK

Doch das ganze Unternehmen hat auch noch einen anderen Hintergrund: „Diese Bäume sind quasi unser Apfel-Genreservoir für die Zukunft“, erklärt Flachowsky. Denn wenn sich die Umweltbedingungen ändern, und das könnte mit der Klimaerwärmung schnell passieren, hat man mit vielen verschiedenen Apfeltypen eine größere Chance, dass einer der Bäume vielleicht mit zukünftiger Hitze, Erkrankungen oder Schädlingen zurechtkommt. Den überlebenden könnte man dann wieder auskreuzen, also vermehren. So würde es auch in Zukunft in Deutschland noch Äpfel geben.

Gravensteiner hätten sie sogar da in ihrer Apfelplantage in Dresden, meint Flachowsky, da bräuchte er nicht einmal in seiner Liste nachzusehen. So ausgefallen ist mein Kindheitsapfel wohl doch nicht. Flachkowsky sagt, dass man ihn manchmal auf kleinen Märkten oder in Bioläden kaufen könne – den Reis schickt er mir sogar kostenlos zu.

Mit dem etwa 40 Zentimeter großen Reis, also einem einjährigen Trieb des Gravensteiner-Apfelbaums, müsse ich aber zuerst noch in eine Baumschule gehen. Dort wird der kleine Gravensteiner-Zweig auf den Stamm eines verwandten Baumes gesetzt, damit er mit dessen Wurzeln zusammenwächst – veredeln nennt man das. Das sollte man möglichst im Februar machen, damit der neue Baum im Frühjahr dann schon austreiben kann.

Im Herbst kann ich dann meinen Baum pflanzen, ein paar Jahre später die ersten Äpfel zusammensammeln und sie in eine Mosterei bringen und Saft aus meinen Äpfeln pressen lassen. Vielleicht kann ich später meinen Kindern dann auch mal selbst gemosteten, konservierungs- und schadstofffreien Apfelsaft präsentieren. Wie schön.

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