Kolumne Die eine Frage: Der politische Jahrhundertwechsel

Rechtspopulismus und Fridays for Future greifen beide den Status quo der liberalen bürgerlichen Gesellschaft an. Sie greifen uns an.

Junge Menschen halten ein Transparent auf dem steht: "System change not climate change"

Alle müssen ihr Leben ändern, wenn der Klimawandel gestoppt werden soll, ist die Botschaft Foto: dpa

Die liberale bürgerliche Gesellschaft, wie wir sie kennen und zu der wir gehören, wird jetzt von zwei Seiten angegriffen. Auf der einen Seite greift eine rechtspopulistische Bewegung an, die ökonomische Globalisierung und emanzipatorische Liberalisierung rückgängig machen möchte. Auf der anderen Seite attackiert die Jugendbewegung Fridays for Future, die sozialökologische Zukunftspolitik fordert. Die einen wollen nach hinten, die anderen wollen nach vorn, aber beide protestieren gegen die eigene Zukunftslosigkeit.

Diese Zukunftslosigkeit wird für beide Seiten verkörpert von den Parteien, die die Bundesregierung bilden, Union und mehr noch die SPD. Die Hoffnungsfläche für Rückwärts ist die AfD, jene für Vorwärts (sic!) sind die Grünen. FDP und Linkspartei haben und finden in dieser Konstellation derzeit keine Rolle.

Wir haben es – um 20 Jahre verspätet – mit dem Versuch eines gesellschaftlichen Jahrhundertwechsels zu tun, der 1998 verpasst wurde. Umso bemerkenswerter ist es, dass beide Koalitionspartner in den letzten Wochen ihr Möglichstes tun, um den Leuten klarzumachen, dass sie den Schuss nicht hören können oder wollen. Das ist nicht lustig, sondern erschütternd, wenn die beiden Parteien, denen die Bundesrepublik Einigkeit, Recht, Freiheit und Wohlstand verdankt, dahinsiechen wie alzheimerkranke Eltern, die nur noch in lichten Momenten wirklich im Jetzt sind.

Aber auch die Mediengesellschaft tut sich schwer, die Veränderung intellektuell zu ertasten. Einige beklagen, dass andere die Grünen ins Kanzleramt schreiben wollten. Als ob das das Problem des Planeten wäre. Quatsch: Teile der Gesellschaft möchten, dass die klimapolitische Ignoranz schleunigst ein Ende hat, darum geht es.

Der grundlegende Irrtum

Das mit dem Vorwurf des weiblichen Habeck-Fantums abbügeln zu wollen, ist echt unterkomplex. Der grundlegende Irrtum besteht darin, dass die digitalisierte Mediengesellschaft sich noch an Leitartikeln, Titelstorys oder gar konzertierten Aktionen von Printmedien orientieren würde. Das ist wirklich passé. Die Jungen agieren sowieso in einem anderen Kommunikations- und auch Denksystem.

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Die entscheidende Mehrheitsfrage ist jetzt, was die bürgerlich-liberale Elterngesellschaft macht, die bisher Union, SPD, FDP oder Grüne gewählt hat, mit guten Gründen, aber auf der Grundlage, dass es letztlich für sie alles okay lief. Als Luisa Neubauer unlängst von gerührten Grünen-Funktionären Standing Ovations bekam, da wurde klar, dass die Eltern der protestierenden Kinder nicht verstanden haben, dass deren Anklage sich nicht gegen die „anderen“ richtet. Sondern gegen uns. Keiner lebt in dieser Gesellschaft sozialökologisch, weil es keine individuelle Entscheidung ist, sondern ein politischer, marktwirtschaftlicher, gesellschaftlicher, kultureller, europäischer Pfad.

Fridays for Future haben verstanden, dass die Ignoranz gegenüber der existenziellen Zukunftsbedrohung nicht nur für Donald Trump gilt, sondern für die deutsche Gesellschaft und Politik. Es geht hier nicht mehr um Schnitzelverbote oder Gendersternchen oder moralische Umkehr. Es geht ums Ganze.

Die Kids fordern uns auf, Prioritäten zu setzen und die bürgerliche Mehrheitsvorstellung von „Maß und Mitte“ sozialökologisch zu verschieben. Die Chance der Mehrheitsgesellschaft ist es, sich anzuschließen und dadurch Teil von dynamischer Veränderung durch wechselseitige Unterstützung von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft zu werden. Ohne Freiraum für Leistungsträger und eine kreative Wirtschaft wird es nicht gehen.

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Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

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