: Die letzten Schweinswale der Ostsee
Dem Schweinswal in der Ostsee droht der Artentod. Nur noch etwa 500 der kleinen Meeressäuger leben vor den Badestränden. Hauptursache ist die Fischerei selbst in Schutzgebieten. Die Bundesregierung ist uneins über den Schutz der Delfin-ähnlichen Kleinwale
Von Sven-Michael Veit
Viel Positives gibt es nicht zu berichten zum „Internationalen Tag des Ostsee-Schweinswals“ an diesem Sonntag. „Kurz vor dem Exitus“ stehe der Schweinswal in der Ostsee, sagt Michael Dähne, Kurator für Meeressäuger am Deutschen Meeresmuseum in Stralsund. Nur noch 497 dieser Kleinwale lebten nach aktuellen Zählungen im baltischen Binnenmeer, rein statistisch betrachtet liege die Schwankungsbreite „zwischen 80 und 1.091“ Tieren. Im Ergebnis mache das aber keinen Unterschied, sagt Dähne: „Der Ostsee-Schweinswal steht vor dem Aussterben.“
Der Artentod vor dem Badestrand hat System. Nach einer Todesstatistik der Bundesregierung wurden in diesem Jahrtausend allein an deutschen Küsten fast 5.000 tote Schweinswale gefunden, antwortete das Bundesumweltministerium Ende April auf eine schriftliche Anfrage der grünen Bundestagsabgeordneten Steffi Lemke. Noch immer gebe es dort „keinen wirksamen Schutz der Schweinswale“, konstatiert Lemke.
Die naturschutzpolitische Sprecherin der grünen Fraktion hatte für 2018 die Zahlen über die Ostsee abgefragt. Danach wurden vor Mecklenburg-Vorpommern 69 tote Schweinswale registriert, vor der schleswig-holsteinischen Ostseeküste 134. Mit zusammen 203 toten Tieren ist dies die zweithöchste Zahl in diesem Jahrtausend, der Höchststand lag 2016 bei 221 Opfern. Eine Statistik für das Jahr 2018 für die Nordsee liegt noch nicht vor.
Der Schweinswal ist die einzige heimische Walart. Die höchstens 180 Zentimeter langen und 80 Kilogramm schweren Säuger gehören zu den Zahnwalen und sind die nächsten Verwandten der Delfine. Zumindest in der zentralen und östlichen Ostsee ist Flippers kleiner Vetter akut vom Aussterben bedroht. Nach Angaben der Bundesregierung liegt dort, in Übereinstimmung mit den Aussagen von Dähne, „die Population auf dem extrem niedrigen Niveau von weniger als 500 Tieren“.
In der westlichen Ostsee zwischen Rügen und dem Kattegat wird die Population mit etwa 18.500 Schweinswalen angegeben, was indes umstritten ist. Der Deutsche Fischereiverband mit Sitz in Hamburg stützt sich auf den wissenschaftlichen Scans-Report, der alle elf Jahre Meeressäuger in Nord- und Ostsee untersucht. Der dritte Report von 2017 spricht von exakt 42.324 Schweinswalen in der westlichen Ostsee. Dähne gibt die Bandbreite vorsichtig mit „zwischen 20.000 und 40.000“ an. Aber selbst das wäre artenschutzrechtlich „eine große Unsicherheit der Bestandsschätzung“.
Schwund um ein Drittel
In der Nordsee vom Ärmelkanal bis zum Nordkap leben nach früheren Angaben der Bundesregierung mehr als 200.000 Exemplare. Zehn Jahre zuvor allerdings hätten dort noch mehr als 300.000 Schweinswale gelebt – das wäre ein Schwund von einem Drittel in einem Jahrzehnt. Der Scans-Report hingegen schätzt den dortigen Bestand auf 467.000 Schweinswale sowie auf mehr als eine Million Delfine mehrerer Arten. Seit über zwei Jahrzehnten, so der Bericht, „sind die Bestände stabil“.
Wie dramatisch indes die Situation des Schweinswals in der Ostsee ist, zeigt das Beispiel des Vaquita im Golf von Kalifornien. Vom kleinsten aller Schweinswale – die Tiere sind keine 150 Zentimeter lang und um die 40 Kilogramm leicht – gibt es nur noch höchstens 30 Exemplare. Vor 20 Jahren waren es noch etwa 500 – so wie jetzt bei seinem Cousin in der Ostsee. 2040 mithin, so ließe sich hochrechnen, wäre der heimische Wal im baltischen Binnenmeer ausgerottet.
Vor Mexiko ist die Stellnetzfischerei für den Artentod verantwortlich, in der Ostsee ist das kaum anders. „Die Ursache ist sehr eindeutig die Fischerei“, sagt Dähne. Die „Kleinen Tümmler“, wie Schweinswale auch genannt werden, ertrinken in Stellnetzen. Bei den Obduktionen von 324 Kadavern im Stralsunder Meeresmuseum in den vergangenen Jahren wurde bei mehr als 60 Prozent der Tiere „Verdacht auf Beifang“ als Todesursache ermittelt.
2018 soll jedoch nur ein Tier „gemeldeter Beifang“ gewesen sein, schrieb Umwelt-Staatssekretärin Rita Schwarzelühr-Sutter (SPD) im April in ihrer Antwort an Lemke, aus Schleswig-Holstein lägen noch keine Obduktionsergebnisse vor. Zugleich räumte das Bundesumweltministerium erstmals die „Eigenständigkeit“ der Ostsee-Schweinswale ein, die „genetisch sicher belegt“ sei. Es handele sich zwar nicht um „eine eigene Art“, aber um eine „Unterpopulation“, so Schwarzelühr-Sutter. Ein „genetischer Austausch“ mit der größeren Population im Westen sei „äußerst unwahrscheinlich“.
Schutzstufe nicht erhöht
Damit widerspricht das Haus von SPD-Umweltministerin Svenja Schulze dem Landwirtschaftsministerium von Julia Klöckner (CDU). Das weigerte sich Mitte April, die Schutzstufe für den Ostsee-Schweinswal auf den höchsten Rang zu erhöhen. Grund ist, dass er „keine eigenständige Art und somit nicht vom Aussterben bedroht“ sei. Wäre er als solche anerkannt, „müsste bereits ab einer Beifangmenge von 5 Individuen die Stellnetzfischerei verboten werden“, räumt das Ministerium offen ein. Das aber „hätte zur Folge, dass die kleine handwerkliche Fischerei in der Ostsee mit ihren allein in Deutschland rund 1.000 Fischereifahrzeugen unter 12 Metern Länge fast vollständig aufgegeben werden müsste“.
Nach Ansicht von Michael Dähne ist die Weigerung nicht nachvollziehbar. Neuere genetische Untersuchungen der Universität Potsdam hätten die Eigenständigkeit des Ostsee-Schweinswals „deutlich aufgezeigt“. Die Grüne Lemke fordert deshalb mehr Schutz für die Kleinwale. Notwendig seien „wirksame Meeresschutzgebiete“ mit scharfen Regeln für Fischerei und industrielle Nutzung: „Wir fordern dringend internationale Mindeststandards für Meeresschutzgebiete, Nullnutzungszonen in Meeresschutzgebieten und damit echte Rückzugsräume für Meeressäuger in Nord- und Ostsee“, so die Grüne.
Ende September 2017 hatte die damalige Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) sechs Meeresgebiete unter Naturschutz gestellt: „Doggerbank“, „Borkum Riffgrund“ und „Sylter Außenriff/Östliche Deutsche Bucht“ in der Nordsee sowie „Fehmarnbelt“, „Kadetrinne“ und „Pommersche Bucht/Rönnebank“ in der Ostsee. Sie umfassen etwa 45 Prozent der deutschen Meeresfläche.
Für die Ostsee-Schutzgebiete hat die Bundesregierung jedoch erst zu Jahresbeginn einen Maßnahmenkatalog vorgelegt. Er sieht eine Einschränkung der Schleppnetzfischerei in Schutzgebieten vor. Die laut Lemke „so tödliche“ Stellnetzfischerei soll aber weiterhin keinerlei Beschränkungen unterliegen. „Damit stehen die Schutzgebiete nur auf dem Papier“, sagt Lemke.
„Schutzgebiete bringen eh nichts“, sagt hingegen Peter Breckling, Generalsekretär des Deutschen Fischereiverbandes – weil Schweinswale „nicht ortstreu“ seien. Die Fischerei in der Ostsee sei für sie „nicht bestandsgefährdend“, beharrt er, es gebe sogar Hinweise, dass die Populationen wachsen: „Mehr Tiere, mehr Totfunde, geringere Dunkelziffer“, so seine griffige Formel. Zudem könne die Größe des Bestandes in der Ostsee „nicht seriös ermittelt werden“. Auch sei eine „räumliche Durchmischung“ mit der Population in der westlichen Ostsee „auf Grund von Wanderungsbewegungen wahrscheinlich“.
Michael Dähne, Kurator für Meeressäuger am Deutschen Meeresmuseum in Stralsund
Warnung vor dem Aussterben
„Das stimmt definitiv nicht“, sagt Dähne. „Alle Analysen sprechen dagegen.“ Es gebe eine klare räumlich-saisonale Trennung zur Paarungszeit und dadurch nahezu keinen genetischen Austausch zwischen den beiden Beständen. Das bestätigt auch sein Chef Harald Benke, Direktor von Meeresmuseum und Ozeaneum in Stralsund: „Wenn diese Schweinswale der inneren Ostsee verschwunden sind, dann sind sie weg für immer. Sie werden nicht ersetzt durch Schweinswale der westlichen Ostsee.“
Nach Ansicht des Fischereiverbandes sind aber Stellnetze nur noch eine minimale Gefahr für Schweinswale. Spezifische Warngeräte (PAL), die aufgrund einer freiwilligen Vereinbarung zwischen Fischerei- und Naturschutzverbänden seit einem Jahr im Einsatz sind, seien sehr erfolgreich. Die PAL (Porpoise Alert = Schweinswal-Alarm) imitieren die Warnlaute der Schweinswale und halten sie so von Netzen fern. Der Begriff stammt von „Harbour Porpoise“, dem englischen Wort für Schweinswal (Abb.7).
Damit seien Beifänge in der Ostsee bei Tests um bis zu 70 Prozent verringert worden, sagt Christian von Dorrien, Abteilungsleiter Fischerei & Umwelt beim Thünen-Institut für Ostseefischerei in Rostock. Bei mehr als 900 Einsätzen wurden lediglich 21 Schweinswale als Beifang registriert: 18 in gewöhnlichen Netzen, in Netzen mit PAL waren es nur drei. Zugleich würden die Warnlaute die Wale keineswegs weiträumig vertreiben: „Sie werden nicht vergrämt, sie kommen nur nicht näher“, sagt Dorrien.
Ohne ein nachvollziehbares und lückenloses Monitoring über mindestens zwei Jahre sei der Langzeitnutzen der PAL nicht bewiesen, sagt hingegen Dähne, der 2014 an der Universität Kiel über die „Nutzung akustischer Methoden zum Schutz von Schweinswalen“ promovierte. Bei so kleinen Beständen wie beim Ostsee-Schweinswal sei „jedes tote Tier eines zu viel“.
So sehen das auch die MeeresexpertInnen der Umweltschutzverbände. Heike Zidowitz von der Umweltstiftung WWF und Thilo Maack von Greenpeace sind sich einig: „Die Stellnetzfischerei ist die Haupttodesursache für Schweinswale.“ Sie zu verbieten, „wäre klug, aber politisch wohl kaum durchsetzbar“, sagt Zidowitz. Die Fischerei sei „vollkommen unreguliert“, sagt Maack. „Der Naturschutz fällt regelmäßig unter den Tisch, wenn er mit wirtschaftlichen Interessen kollidiert.“
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