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Kommentar Stichwahl in der UkraineLeise Stimme plötzlich laut

Bernhard Clasen
Kommentar von Bernhard Clasen

Alles schien auf einen neuen Sieg Petro Poroschenkos hinzudeuten. Jetzt zeigt sich: In der Ukraine besteht kein Bedarf an nationalistischer Rhetorik.

An den Sieg angepirscht: Wolodimir Selenski Foto: ap

D er erdrutschartige Sieg des Komikers Wolodimir Selenski am Sonntag war eine Überraschung, mit der man noch vor sechs Wochen nicht gerechnet hätte. Zu verdanken ist diese Überraschung zwei Personen: Petro Poroschenko und Wolodimir Selenski. Wer sich zwei Tage vor der Stichwahl auf den Weg ins Kiewer Olympiastadion gemacht hatte, um dem Rededuell der beiden Präsidentschaftskandidaten beizuwohnen, konnte im Schnelldurchgang erleben, wie in der Ukraine in den vergangenen Jahren Stimmung und damit Politik gemacht wurde.

Dutzende Busse aus der Provinz spuckten lustlos dreinblickende Teilnehmer der Wahlshow aus. Sie alle waren angereist, um Kandidat Petro Poroschenkop im Olympiastadion zuzujubeln und es gleichzeitig Herausforderer Selenski mit Pfiffen und Buhrufen vor allem dann schwer zu machen, wenn er auf Russisch redete. Im Kiewer Stadion war Poroschenko lauter als der mit ruhiger und beharrlicher Stimme redende Selenski. Poroschenko erhielt deutlich mehr Applaus und Zustimmung als sein Herausforderer. Das Stadion verließ man mit dem Gefühl, Poroschenko könnte es vielleicht doch noch einmal schaffen.

Doch dass er es nicht geschafft hat, zeigt, dass die schweigende Mehrheit nicht das tut, was eine lautstarke aktive Minderheit wünscht. Und es zeigt auch: in der ukrainischen Gesellschaft besteht mehrheitlich kein Bedarf an der nationalistischen Rhetorik eines Petro Poroschenko. Vielleicht sollte man sich auch im Bundeskanzleramt, wo man ja bis zuletzt an Poroschenko festgehalten hatte, fragen, warum man in der Ukraine nicht auch mal auf die leiseren Stimmen hörte.

Selenski selbst hat die letzten Jahre alles getan, um einen Verdacht, er habe politische Ambitionen, gar nicht erst aufkommen zu lassen. Seit Jahren zieht er Poroschenko und Timoschenko in seinen Shows durch den Kakao. Einem Künstler ist ja alles erlaubt. Doch nur ein Schelm hielt dies für einen vorgezogenen Wahlkampf. Selenski hat sich buchstäblich an die Präsidentschaft herangeschlichen. Für den zukünftigen Präsidenten dürften die erstaunten Augen all derer, die bis zuletzt eine Präsidentschaftskandidatur des Komikers für einen weiteren Scherz gehalten hatten, eine diebische Freude gewesen sein.

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Bernhard Clasen
Journalist
Jahrgang 1957 Ukraine-Korrespondent von taz und nd. 1980-1986 Russisch-Studium an der Universität Heidelberg. Gute Ukrainisch-Kenntnisse. Schreibt seit 1993 für die taz.
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