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Gastbeitrag Theatermachen im IrakDer endlose Zyklus der Gewalt

Vor fünf Jahren rief der „Islamische Staat“ in Mossul das Kalifat aus, nun wird an diesem Ort ein antikes Stück aufgeführt. Es ist nur ein Anfang. Ein Essay.

Mossul, Dezember 2018. Kinder spielen in der Umgebung der zerstörten Al-Nuri-Moschee Foto: imago/Xinhua

Vergangenen Monat war ich in Mossul, um mit belgischen und irakischen Schauspielern eine Adaption der „Orestie“ von Aischylos zu inszenieren, der ältesten erhaltenen griechischen Tragödientrilogie. Mossul liegt im Nordirak. Berühmt wurde die Stadt 2014, als der selbsternannte „Kalif“ Abu Bakr al-Baghdadi, Anführer der Terrororganisation „Islamischer Staat“, in einer der größten Moscheen der 3-Millionen-Stadt ein „Kalifat“ ausrief. Die Schlacht um Mossul begann zwei Jahre später. Sie kostete, wie die Terrorherrschaft des IS zuvor, Tausende von Menschenleben.

Zum ersten Mal in den Nord­irak gefahren bin ich im Jahr 2016. Für das Stück „Empire“ reisten wir damals die klassische Flüchtlingsroute rückwärts, von Deutschland bis nach Syrien. Der Kampf um Mossul hatte damals gerade erst begonnen. Wollte man vom nordirakischen Erbil an die syrische Grenze gelangen, musste man die Stadt weiträumig umfahren. Über die 2014 komplett zerstörte ehemalige Jesiden-Metropole Sindschar gelangten wir schließlich nach Qamischli, in die Hauptstadt der kurdischen autonomen Region Rojava in Nordsyrien, an der Grenze zur Türkei.

Seither hat sich die Lage in der Region sowohl gebessert als teilweise verschlimmert. Die türkische Armee hat die kurdische Region Afrin im Nordwesten Syriens überrannt. Und sie macht sich bereit, im Verbund mit islamistischen Milizen auch in die kurdische Föderation Rojava in Nordsyrien einzumarschieren. Mossul im Nordirak dagegen wurde vom IS befreit, wenn auch um den Preis der völligen Zerstörung einiger der bedeutendsten Stätten der menschlichen Kulturgeschichte.

Mitten in Mossul liegen die Ruinen von Ninive, das schon eine Großstadt war, als das Griechenland des Aischylos noch nicht einmal bevölkert war. „Würde Mossul heute gegründet“, erzählt die irakische Schauspielerin Susana AbdulMajid zu Beginn unseres Stücks, „dann würde Aischylos im Jahr 7000 leben.“ Sprechen die griechischen Tragiker über „Troja“ und überhaupt die Vorgeschichte der europäischen Zivilisation, dann sprechen sie über diese Region.

Das Tor zum Irak

Eine Reise nach Mossul ist so nicht nur eine Reise ins Herz von Fernsehbildern. Es ist auch eine Reise rückwärts, vom historisch jungen Westeuropa in das, was man die Antike der Antike nennen könnte. Die Assyrer, die Babylonier, später Alexander der Große, die Ottomanen, die Türken, die Briten, Saddam Hussein und im 21. Jahrhundert dann eine Abfolge von Milizen: alle herrschten sie hier, in einer der ölreichsten Regionen der Welt.

Wir spielen auf den Dächern der Häuser, von denen Homosexuelle in den Tod gestürzt wurden

Als sich ab 2006 al-Quaida und schließlich ab 2011 der „Islamische Staat“ zu etablieren begannen, machte das die Bürger der 3-Millionen-Stadt zunächst wenig nervös. Schon so viele verschiedene Herrscher hatten über das „Tor zum Irak“, wie Mossul genannt wird, geherrscht. Doch ab 2014 zeigte sich das wahre Gesicht der selbst ernannten Sittenwächter des „Islamischen Staats“ immer deutlicher. Die Dschihadisten begannen, summarische Massen­exekutionen an „Ungläubigen“ durchzuführen. Homosexuelle wurden mitten in der Stadt vom Dach eines früheren Luxuskaufhauses in den Tod gestürzt.

Als ich November zum ersten Mal mit einem kleinen Kamerateam für ­Castings und Recherchen in das vom IS befreite Mossul kam, schien es, als wären noch die Dschihadisten an der Macht. Checkpoint hinter Checkpoint, an den Einfallstraßen riesige schwarze Flaggen: die Ästhetik der Schiah-Milizen, die seit der Rückeroberung gemeinsam mit der irakischen Armee Mossul kontrollieren, unterscheidet sich auf den ersten Blick nur wenig von der des sunnitischen „Kalifats“.

Sprengfallen und Leichenreste

Abgesehen von der Universitätsbibliothek und der Kunstakademie, die beide vom IS in die Luft gejagt wurden, ist die Ostseite der Stadt überraschend gut erhalten. Die Altstadt westlich des Tigris jedoch ist bis auf die Grundmauern zerstört. Die Ruinen sind durchsetzt mit Sprengfallen, auf Trümmergrundstücken finden wir Schädel und Leichenreste. Die Kanzel der Al-Nuri-Moschee, von der al-Baghdadi sein „Kalifat“ ausrief, wurde vom IS eigenhändig gesprengt. Der schiefe Gebetsturm, der sich gemäß der Überlieferung vor dem Propheten bei seiner Himmelfahrt verneigte, war ihnen zu formverliebt – haram, unrein.

Als ich im März mit dem Ensemble des Nationaltheater Gent zurückkehre, um mit den Proben an der „Orestie“ zu beginnen, sind die Straßen der Altstadt schon halb leergeräumt. Eine neue Brücke überspannt den Tigris, die Rekonstruktionsarbeiten an der Al-Nuri-Moschee haben begonnen.

Am ersten Probentag spielen die Musiker und Schauspieler des irakischen Ensemble-Teils an der Universität das erste öffentliche Konzert seit Saddams Sturz im Jahr 2003. Doch unter der Oberfläche geht der Bürgerkrieg weiter. In Mossul verstecken sich noch geschätzt 3.000 „Schläfer“ des ehemaligen „Islamischen Staats“. Die Familien der Dschihadisten sitzen in Lagern ein, nun selbst zu Opfern geworden. Kurz bevor wir ankommen, explodiert in der Straße der Kunstakademie, in der wir proben, eine Autobombe. Acht Menschen sterben. Zwei weitere Anschläge folgen, die Urheber bleiben unklar. Meist sind es offene Rechnungen, die weit in den Bürgerkrieg zurückreichen.

Antike Tragödie

Die „Orestie“ ist ein Stück über genau das: den endlosen Zyklus der Gewalt. Aischylos’ Plot ist so simpel wie effektiv. Der Kriegsverbrecher Agamemnon kehrt aus dem zerstörten Troja nach Griechenland zurück. Da er zehn Jahre zuvor, als der Wind für die Reise seiner Kriegsflotte nach Troja ausblieb, die gemeinsame Tochter Iphigenie geopfert hat, tötet ihn seine Frau Klytamnestra. Orestes, der gemeinsame Sohn, rächt den Vater und tötet seine Mutter. Im dritten Teil schließlich gelangt Orestes, verfolgt von den Rachegöttinnen, nach Athen. Orestes wird von der Hausgöttin Athena freigesprochen, der blutige Familienzwist endet. Aus den Rachegöttinnen werden Eumeniden, Schutzgöttinnen der nun befriedeten Bürgergemeinschaft.

In Mossul weist jede Biografie Parallelen zu den Charakteren aus der Tragödie des Aischylos auf. Der Wächter, der im Eingangsmonolog von Aischylos den Nachthimmel nach Feuerzeichen von Agamemnons Rückkehr aus Troja absucht, wird bei uns von einem Fotografen gespielt. Jedes Bild, das er schoss – Massaker, Bombenangriffe, die Sprengung der Altertümer – konnte während der Herrschaft des IS seinen Tod bedeuten. Und trotzdem machte er weiter.

Ebenso wie die Musiker, die im Keller ihre Instrumente spielten, worauf schwere Strafen standen. Alle unsere Schauspielerinnen und Schauspieler haben mindestens ein Familienmitglied verloren, seitdem die USA 2003 in den Irak einmarschierten. Der Mann der Frau etwa, die unsere Athena spielt, wurde von al-Qaida exekutiert. Er wollte kein Schutzgeld zahlen. Sie selbst kooperierte später mit dem IS, um ihre Töchter vor den Dschihadisten zu schützen. Die beste Freundin unserer Iphigenie dagegen – die ihrerseits verschleiert spielt, damit sie nicht erkannt wird – wurde entführt und zwangsverheiratet.

Spielen in der zerstörten Kunstakademie

Andere verloren ihre Mütter, ihre Brüder, ihre Kinder. „Jeder könnte hier einen ganzen Film erzählen“, sagt mir unser Bandleader während der Proben, die – immer wieder unterbrochen durch Kontrollen durch die Polizei und die Milizen – in der ganzen Stadt stattfinden. Wir spielen auf den Dächern der Häuser, von denen Homosexuelle in den Tod gestürzt wurden; in unserem Hotelkomplex, dem einzigen Mossuls, in dem wir zusammen mit Führern der Milizen wohnen; und immer wieder in der völlig zerstörten Kunstakademie.

Während der Proben zeigt uns ein Kriegsreporter eine riesige Datenbank mit Bildern und Videos von Hinrichtungen, wie sie in Mossul täglich in der Fußgängerzone stattfanden. Es sind Bilder, die man nicht vergisst: etwa die drei jungen Männer, Soldaten der irakischen Armee, in einer Reihe angetreten, um durch Genickschuss hingerichtet zu werden. So wie man einer Ohrfeige auszuweichen versucht, zucken sie zur Seite, wenn ihr Nebenmann erschossen wird.

Es ist seltsam und unheimlich, all die Verbrechen, für die der IS bekannt wurde, mit einheimischen Darstellerinnen und Darstellern in den Ruinen Mossuls zu inszenieren. Die „Orestie“ ist eine Gewaltorgie, eine Art posttraumatische Phantasmagorie, verfasst kurz nach Beginn der Einführung der Demokratie in Athen: ein fast pornografischer Blick zurück in die blutige Vorzeit.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Das irakische Militär schützt uns

Die irakischen Schauspieler bestehen auf größtmöglicher Detailtreue: wo genau eine Pistole bei einem Genickschuss angesetzt wird, welche Berührungen bei der Hinrichtung einer Frau erlaubt sind. Iphigenie wird in unserer „Orestie“ deshalb rituell erwürgt, unsere Kassandra stirbt durch einen Schuss in den Kopf. Nur der Freundschaftskuss zwischen Orestes und seinem Freund Pylades führt zu wochenlangen Debatten. Wir einigen uns schließlich auf einen Bruderkuss auf die Wange. Trotzdem gefriert der Saal in Schockstarre. Um niemanden zu gefährden, bitten wir die anwesenden TV-Stationen, keine Bilder zu veröffentlichen.

„Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“, so beginnt Tolstois berühmter Roman „Anna Karenina“. Was die Konfliktregionen angeht, in denen ich gearbeitet habe, etwa den Ostkongo oder den Nord­irak, so trifft das nicht zu: Sie gleichen einander gerade in ihrem Unglück. Rohstoffreichtum, koloniale Vergangenheit und tribale Strukturen ergeben ein Gemisch, das für eine Welt biblischer Grausamkeit sorgt.

Vielleicht war es die gute Vorbereitung, vielleicht der Schutz durch das irakische Militär, vielleicht aber nur Glück, dass niemand unseres europäisch-irakischen Ensembles in einen der Anschläge verwickelt wurde. Das Schrecklichste geschieht jedoch am ersten Frühlingstag, mitten in der Probenzeit. Am 21. März wird im Nord­irak gleichzeitig das Neujahrsfest Newroz und der Muttertag gefeiert. Eine Fähre, die vor unserem Hotel Menschen auf eine Vergnügungsinsel im Tigris bringt, sinkt und reißt hundert Menschen in den Tod.

Eine Revolte bricht aus

Über die nächsten Tage werden die Opferzahlen langsam ansteigen – vor allem Kinder, die nicht schwimmen können, und ihre Mütter, die es nicht lernen dürfen. Nach einer Schockstarre, die einen Tag andauert, bricht in der Stadt eine Revolte aus. Auf ­Demonstrationen macht der Slogan die Runde: „Wir werden unsere Märtyrer mit unserem Blut rächen.“ Das Militär besetzt die Stadt, ein weiteres Kapitel im Zyklus der Gewalt kündigt sich an.

Gerade in Mossul die „Orestie“ aufzuführen macht so auf schreckliche Weise Sinn. Anders als etwa Euripides und später die römischen Tragödiendichter, die ihre Stücke um unauflösliche Antagonismen herum anlegen, ist Aischylos’ Werk eine Tragödie gegen die Tragödie. Frieden ist für das Athen des beginnenden 5. Jahrhunderts, kurz nach Ende der inneren Bürgerkriege, ein Wert an sich. Im Dritten Teil der Tragödientrilogie reißt der Staat, verkörpert von Athena, das Gewaltmonopol an sich. Die Bürger und ihr Rachebedürfnis werden in einem rhetorischen Tribunal mit dem Versprechen auf Wohlstand versöhnt. Der Kern der „Orestie“ ist so das Paradoxon des Verzeihens: Da es bei Aischylos nur Extreme, also komplette Straf­freiheit oder ausgleichende Rache gibt, kann Friede nur auf Kosten der Gerechtigkeit – und damit der Opfer – erfolgen.

In Mossul erscheint der Ai­schy­los’sche Traum vom Verzeihen wie ein dramaturgischer Kunstgriff. Die gewaltigen Ölfelder und Raffinerien sind nach wie vor in der Hand weniger Familien, die hinwiederum mit westlichen Konzernen verbandelt sind. Darauf aufgesattelt ist ein milizionäres System, in dem der Staat nur einer unter vielen Playern ist, die vom Reichtum des Landes zu profitieren versuchen.

Einem IS-Kämpfer verzeihen

Als wir in Mossul eintreffen, besuchen wir zuerst den Stadtkommandanten. Er residiert in einer von Saddam Hussein gebauten Villa, einem Schloss in neo-assyrischem Stil. Der ehemalige Offizier der Präsidentengarde gibt sich keinen Illusionen hin: Der Krieg wird nie zu Ende sein, jedenfalls nicht, solange es in Mossul Öl gibt. „Ich träume von dem Tag, an dem es hier keinen Tropfen mehr davon geben wird“, sagt er.

Während unserer Zeit in Mossul veranstalten wir das Tribunal am Ende der „Orestie“ zweimal, einmal am Anfang und einmal am Ende der Proben: Pardon oder Todesstrafe für die Mörder der Familien der Schauspielerinnen und Schauspieler? Die Frage ist sehr konkret – und deshalb sehr schwierig. Denn es ist undenkbar, einem ehemaligen IS-Kämpfer zu verzeihen. Genauso unmöglich ist es aber, ihn zu töten. Den irakischen Gerichten hinwiederum vertraut niemand. Und was soll mit den europäischen Dschihadisten geschehen? Was mit ihren Familien? Bei der ersten Abstimmung, zu Beginn der Proben, stimmen alle für den Tod. Bei der zweiten Abstimmung, am Tag vor der Abreise, enthält sich das komplette Ensemble der Stimme. Eine Entscheidung ist unmöglich. Sie ist „tragisch“, wie einer der Schauspieler erklärt.

Das eigentlich Tragische, die eigentliche Wahrheit von „Ores­tes in Mossul“ zeigt sich aber erst in dem Moment, in dem wir wieder nach Europa fahren. Brauchte es schon monatelange Vorbereitungen, um für das europäische Ensemble, die Exil-Iraker und die Schauspieler aus Belgien und Deutschland die nötigen Visa zu bekommen, so ist für das Mossuler Ensemble eine Tour in Europa unmöglich. Zu groß ist die Angst der Behörden, sie könnten Asyl beantragen oder in den Untergrund gehen. Und so bleibt es bei der einmaligen Aufführung in Mossul und dem „Making-of“ im Westen, bei dem die Iraker auf Video zu sehen sind.

Globale Solidarität

„Ich zweifle, und zudem habe ich Angst“, sagte einer der Genter Schauspieler vor der Abreise. „Aber die Alternative wäre ja: nicht nach Mossul zu fahren.“ Und tatsächlich: Wie könnten wir nur das irakische Öl und die Medienbilder, bei Bedarf die billigen Arbeitskräfte konsumieren – ohne einen direkten, menschlichen Kontakt herzustellen? Eine globale Wirtschaft braucht auch eine globale künstlerische Solidarität, so schwierig und fragwürdig sie sein mag. Der Veranstalter der Mossuler Premiere, ein kleines Kulturcafé, schrieb vor einigen Tagen auf Twitter: „Diese Aufführung war etwas, das während Dekaden nicht geschah. Jeder sollte dafür sorgen, dass eine solche Produktion wieder möglich wird.“

Das gilt vor allem auch für Europa. „Orestes in Mossul“ und was davon in Europa zu sehen sein wird: Es ist nur ein Anfang. Ich träume von dem Moment, in dem wir mit dem ganzen Ensemble durch Europa touren werden. Und noch mehr träume ich davon, dass unser irakisches Ensemble bald einen „Orestes in Gent“ inszenieren wird.

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1 Kommentar

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  • Zitat: „Im Dritten Teil [...] reißt der Staat [...] das Gewaltmonopol an sich. Die Bürger und ihr Rachebedürfnis werden [...] mit dem Versprechen auf Wohlstand versöhnt.“

    Für ein oder zwei Generationen mag dieses Versprechen tragen. In der alten BRD etwa hat es das getan. Sind die ursprünglich Betroffenen allerdings erst einmal (fast) alle gestorben, löst sich das Wohlstands-Versprechen quasi von seinem Ursprung und mutiert zum Selbstzweck. Dann wird es gefährlich, weil der Wohlstand nicht mehr dem Ausgleich alter Ungerechtigkeit dient, sondern zum Motor neuer Ungerechtigkeit wird.

    Auf diese Art erklärt sich „der endlose Zyklus von Gewalt“, den die erste Demokratie in Athen nicht zu beenden vermochte. Das „Paradoxon des Verzeihens“ kann im Konsum einfach nicht aufgehoben werden. Der Schmerz, den die alten Wunden verursachen, wird nur betäubt durch den Konsum. Die Wunden selber heilen nicht. Friede gibt es einfach nicht auf Kosten der Gerechtigkeit. Aber Gerechtigkeit gibt es, wo es Vernunft gibt.

    Die Vernunft kann uns lehren, dass zwischen der völligen Straffreiheit und der ausgleichenden Rache die Wiedergutmachung möglich ist. Nein, nicht wie im neuesten Star-Wars-Film oder zu Ostern. Nicht eins zu eins durch Wiederauferstehung, sondern durch Transformation, durch etwas Neues, noch nicht da Gewesenes.

    Es ist undenkbar, einem ehemaligen IS-Kämpfer zu verzeihen. Genauso unmöglich ist es, ihn zu töten. Wenn auch den irakischen Gerichten nicht zu vertrauen ist, bleibt eigentlich nur ein Weg: Die Täter zur Vernunft zu bringen. Nicht in allen Fällen mag das funktionieren. In einigen aber schon.

    Menschen sind wandelbar. Ihr ganzes Leben lang. Den Versuch, jedenfalls, sollte es wert sein. Auch, wenn es vielleicht eine Zumutung ist für die Angehörigen der Toten und die überlebenden Opfer. Denn wenn der Versuch gelingt, können die Wunden abheilen, weil das Gefühl der Hilflosigkeit verschwindet. Die Geschädigten können abschließen mit dem, was war. Und die Täter auch.