Letzte IS-Bastion in Syrien gefallen: Die Metamorphose des IS
Kurdisch-arabische Einheiten haben den militärischen Sieg über den sogenannten „Islamischen Staat“ verkündet. Das Ende ist das noch lange nicht.
Das Kalifat ist verschwunden, nicht aber die Menschen, die es geschaffen haben. Noch weniger ihre Ideologie. Seit der IS 2016 begann, Territorium zu verlieren, sind Tausende Kämpfer in den Untergrund gegangen. Im Irak haben sich operative Zellen neu gruppiert. Sie führen Mordanschläge und Sabotageakte gegen staatliche Institutionen durch oder erpressen mit Entführungen Lösegeld – eine klassische Guerillataktik.
Ähnliches gilt für den Nordosten Syriens. In der einstigen IS-Hochburg Rakka werden zahlreiche IS-Schläferzellen vermutet, die auch immer wieder gegen SDF-Truppen und US-Soldaten zugeschlagen haben. Abu Muhammad al-Adani – einst der zweitwichtigste Mann beim IS, bevor er 2016 getötet wurde – hatte die IS-Taktik für den Tag X, an dem der IS sein Territorium verliert, prägnant zusammengefasst: „Glaubt Amerika, wir seien besiegt, wenn wir eine Stadt oder ein Stück Land verloren haben? Waren wir besiegt, als wir die Städte im Irak verloren haben und uns in die Wüste zurückzogen?“
Das verweist nicht nur auf die IS-Filialen, die in Nigeria, Libyen oder auf dem Sinai gegründet wurden. Laut US-Verteidigungsministerium könnte der IS seine Funktionsfähigkeit im Irak schneller wiederherstellen als in Syrien. „Wenn es keine geeigneten Antiterrormaßnahmen gibt, könnte der IS in Syrien innerhalb von 6 bis 12 Monaten wiederauftauchen und begrenzt Territorium erobern“, hieß es in einem im Februar veröffentlichten Bericht. Der irakische IS-Experte Haschim Haschmi schrieb auf Twitter: „Sie haben den Stamm dieses bösen Baums gefällt, aber nicht die Wurzeln rausgezogen.“
Ideologie als Sicherheitsrisiko
Das gilt umso mehr, als sich die Bedingungen, die zum Aufstieg des IS führten, kaum geändert haben: Beginnend bei den ausländischen Interventionen in der Region, die viel zerstören, nie aber die erklärten Ziele erreichen und unbeabsichtigt neue Monster schaffen (fast die gesamte spätere IS-Führungsriege saß einst im US-Gefängnis Camp Bucca im Irak), bis hin zu den Rivalitäten zwischen Iran und Saudi-Arabien, durch die Sunniten und Schiiten aufeinandergehetzt werden.
Haschim Haschmi, IS-Experte
Der IS hat sich zum Teil erfolgreich als Schutzmacht der Sunniten vermarkten können, die sich im Irak und in Syrien vom politischen und wirtschaftlichen System ausgeschlossen fühlen – einer der Gründe, warum sich die Sunniten im Irak im großen Stil weigerten, sich dem IS entgegenzustellen.
Im irakischen Ramadi, Felludscha und Mossul war nach der Befreiung dieser Städte vom IS zwar Erleichterung zu spüren, gleichzeitig aber zeigte sich, dass sich viele Sunniten beim Wiederaufbau ihrer Städte und ihres Lebens vom Staat alleingelassen fühlten. Eine Enttäuschung, aus der islamistische Gruppierungen erneut Kapital schlagen könnten.
Am beständigsten wird aber wohl die Ideologie sein. Es ist nicht die operative Fähigkeit des IS, sondern dessen Ideologie, die auch das größte Sicherheitsrisiko für Europa darstellt. In einem Manifest im IS-Online-Magazin Dabiq aus dem Jahr 2015 wurde eine Dynamik beschrieben, die militante Islamisten für sich nutzen wollten: Mit jedem Anschlag im Westen wachse dort die antiislamische Stimmung.
Ein Teufelskreis
Die Folgen seien Polarisierung und „die Eliminierung der grauen Zone“, wie die Koexistenz zwischen Muslimen und Nichtmuslimen umschrieben wurde. Mit der Ausgrenzung der Muslime könnten diese leichter in die Arme der Islamisten und ihrer Ideologie getrieben werden.
Darin besteht die größte Gefahr in unseren Gesellschaften, in denen auf Anschläge von Islamisten nun Anschläge rechtsradikaler selbsternannter Kreuzritter folgen, wie zuletzt in Neuseeland. Blickt man auf diesen Teufelskreis, muss man sich fragen, ob die Rechnung des IS nicht auch ohne sein Kalifat noch aufgehen könnte.
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