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Text- und Bildband zum GulagEine Fußnote in Wladimirs Reich

Ein eindrucksvoller Text- und Bildband: Masha Gessens und Misha Friedmans „Vergessen – Stalins Gulag in Putins Russland“.

Überreste eines Gulags in Magdan Foto: Misha Friedman

Ein Mauerstück, davor ein paar verloren wirkende Bäume, die aus schneebedecktem Boden wachsen: So sieht sie also heute aus, die Stätte im Kowalewski-Wald bei St. Petersburg, an der einst Massenhinrichtungen stattfanden. Diese Schwarz-Weiß-Aufnahme ist nur eines von zahlreichen Zeugnissen in dem Band von Masha Gessen und Misha Friedman mit dem Titel „Vergessen – Stalins Gulag in Putin Russland“.

Die russisch-amerikanische Publizistin Gessen ist bekannt dafür, dass sie die gelenkte Demokratie unter Wladimir Putin mit gnadenloser Schärfe und Präzision seziert. Für ihre umfassende Betrachtung „Die Zukunft ist Geschichte“, die die Entwicklung Russlands von den achtziger Jahren bis heute analysiert, wurde sie bei der diesjährigen Leipziger Buchmesse mit dem Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.

Gemeinsam mit dem Fotografen Friedman hat sie sich wieder einmal auf Spurensuche begeben – nach Sandarmoch, Perm-36 und Kolyma. Alle diese Orte, die dem Grauen eine Namen geben, stehen stellvertretend für den Gulag – ein System von Straf- und Arbeitslagern, das die Sowjetunion wie ein Spinnennetz überzog. Von 1930 bis 1953 waren in diesen Lagern mindestens 18 Millionen Menschen inhaftiert. Mehr als 2,7 Millionen kamen zu Tode – durch Hunger, Kälte, Entkräftung oder weil sie ermordet wurden.

Was ist geworden aus den Stätten des Schreckens, den wenigen Überlebenden sowie Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Zeugnisse zu bewahren und zumindest einen Teil der Opfer dem Vergessen zu entreißen? Ihren Befund dokumentieren Gessen und Friedman mit Texten und Bildern, die so verstörend wie beklemmend sind.

Das Buch

Masha Gessen und Misha Friedman: „Vergessen – Stalins Gulag in Putins Russland“, dtv, München 2019, 160 S., 25 Euro

Mit dem Machtantritt von Michail Gorbatschow 1985 und den von ihm verkündeten neuen Prinzipien Glasnost und Perestroika schien es für die sowjetische und später russische Gesellschaft noch möglich zu werden, sich mit diesen Verbrechen auseinanderzusetzen und mit einer Erinnerungs- und Gedächtnisarbeit zu beginnen, die diejenigen einschließt, die damals anonym in Massengräbern verscharrt und somit noch über den Tod hinaus ihrer Identität beraubt worden waren.

Unermüdliches Memorial

Doch der besungene „Wind of Change“ ist längst verflogen – Russlands Präsidenten und Patrioten Wladimir Putin sei Dank. Glaubt man jüngsten Umfragen, firmiert Josef Stalin wieder unter den ganz großen Staatsmännern in Russland. Nicht zuletzt sein Sieg über den Faschismus im „Großen Vaterländischen Krieg“, zentrale Chiffre in der Historiografie und wieder ein wichtiges identitätsstiftendes Moment für viele Russen, lassen die Massenmorde auf die Größe einer Fußnote in der Geschichte schrumpfen.

Vergessen setze Erinnern voraus, dieses habe bislang nicht stattgefunden, sagt eine NGO-Aktivistin

Da ist der Ort Sandamorch, wo auf dem Höhepunkt der Stalin’schen Säuberungen 1937/38 rund 10.000 Menschen hingerichtet worden sein sollen. Ein Teil der Getöteten wurde von Solowki-Inseln an jenen Ort gebracht, wo 1923 das erste sowjetische Lager für politische Gefangene errichtet worden war. Seit 1997 gibt es in Sandamorch, immerhin, eine bescheidene Gedenkstätte – die einzige ihrer Art. Sie wäre nicht hier ohne das unermüdliche Engagement der Nichtregierungsorganisation Memorial, die seit ihrer Gründung 1988 für eine Aufarbeitung politischer Gewaltherrschaft und die Einhaltung von Menschenrechten kämpft. Heute wird Memorial als „ausländischer Agent“ geführt – ein gesetzlich mit Strafen bewährtes Label, das der russischen Regierung dazu dient, kritische Stimmen mundtot zu machen.

Auch die Stimme des Memorial-Vertreters in Karelien, Juri Dmitrijew, der sich um das Gedenken an die Opfer von Sandamorch verdient gemacht hat, könnte bald ganz verstummen. Derzeit läuft gegen ihn ein Verfahren wegen Kinderpornografie. Angeblich wurden einschlägige Fotos seiner Pflegetochter auf seinem Computer gefunden. Anfang März wurde sein Arrest zunächst bis zum kommenden Juni verlängert. An einer Verurteilung zweifelt kaum jemand.

Alles vergessen?

Auch das Gebiet Kolyma, im Fernen Osten Russlands, war 20 Jahre lang die erzwungene Heimat von Millionen von Häftlingen. Seit den achtziger Jahren erforscht die Geologin Inna Gribanowa das Vermächtnis des Lagers Butugytschag, einem ehemaligen Uranbergwerk. Da sind immer noch Menschen, die die Lager überlebten, aber nach ihrer Entlassung keinen anderen Ort hatten, an den sie hätten zurückkehren können.

taz am wochenende vom 23./24. März

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Da ist ein kleines Museum mit einer Ausstellung, die nicht mehr, wie noch vor Jahren, eine klare Aussage vermittelt, sondern, so diagnostiziert Gessen, wie eine Kakofonie anmutet. Und da ist eine kleine, kaum zugängliche, Plattform, die über und über mit Schuhen bedeckt ist – nicht von Hand aufgeschichtet, sondern quasi ein Mahnmal von selber geronnener Erinnerung. Ihr Lebenswerk und ihre Zustimmung zu Putin – für Gribanowa ist das kein Widerspruch. „Mein ganzes Leben war ich in der Minderheit. Ich hatte einfach genug davon. Ich wollte einmal in meinem Leben für einen Sieger stimmen. Und das habe ich getan“, zitiert Gessen sie.

Masha Gessen treibt bei all ihren Begegnungen eine zentrale Frage um: Warum konnte das Vergessen in Russland das Erinnern so schnell und leicht verdrängen? Schon die Frage sei irreführend, findet hingegen Irina Flige von Memorial. Denn Vergessen setze Erinnern voraus, dieses habe bis jetzt jedoch nicht stattgefunden. Das dürfte, zumindest solange Wladimir Putin an der Macht ist, vorerst leider auch so bleiben.

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