Sexuelle Gewalt in der Kirche: Auf verlorenem Posten
Bischof Franz-Josef Bode versucht sich in Osnabrück als Aufklärer. Damit löst er nicht bei allen Amtsbrüdern Begeisterung aus.
Dass Bodes Bußpredigt nicht nur von „Schamröte“ spricht, sondern auch von „Erneuerung“, signalisiert: Bode, seit 1995 in Osnabrück, lange Kopf der Jugendkommission der Deutschen Bischofskonferenz und seit 2017 deren stellvertretender Vorsitzender, mahnt Taten an. Es gilt, eine Mauer des Verschweigens und Verdrängens, des Verleugnens und Verharmlosens ins Wanken zu bringen.
Die Offenheit, mit der Bode sich in der Missbrauchsdebatte von 2010 positioniert, ausgelöst durch den Skandal um das jesuitische Canisius-Kolleg in Berlin, ist mutig. Ohnehin ist Bode ein Reformer. Er mahnt mehr kirchliche Zuwendung für gleichgeschlechtliche Paare an: Man müsse „darüber nachdenken, wie wir solche doch sehr verantwortungsbewussten und bindungsbereiten Lebensgemeinschaften begleiten, pastoral und liturgisch“. Er ist dafür, Frauen tragende Rollen in der Gemeindeleitung zu übertragen. Eine seiner Gemeinden wird – ein Pilotprojekt – von einem Laien geleitet statt von einem Pfarrer. Selbst die kritische Reformbewegung „Wir sind Kirche“ zollt ihm für solche Vorstöße Respekt.
Im Februar 2019 schrieb Bode einen offenen Brief an seine Mitarbeiter, an alle Gläubigen seines Bistums. „Uns bewegt die Frage nach den Ursachen“, heißt es darin, „auch nach der Schuld nicht nur der Täter, sondern auch des Systems Kirche und seiner Verantwortungsträger.“ Sich selbst nimmt er dabei nicht aus: „Wo habe ich als Bischof nicht richtig hingesehen?“
Mehr Licht in Gefahrenzonen
Im selben Brief stellte Bode das „Konzept für den Umgang mit sexualisierter Gewalt und geistigem Missbrauch im Bistum Osnabrück“ vor, das sehr konkrete Maßnahmen vorsieht. Eine der weitreichendsten: Jede kirchliche Einrichtung, jede Gemeinde soll ihre Innen- und Außenräume daraufhin untersuchen, wo Gefahrenzonen Täter begünstigen – um sie dann zu entschärfen, von der baulichen Veränderung bis zu besserer Beleuchtungstechnik.
Bodes Konzept sieht Hilfen „für irritierte Systeme“ vor, etwa wenn eine Gemeinde, in der ein Täter gewirkt hat, Unterstützung braucht. Es geht um neue Leitlinien, zusätzliche Ansprechpersonen, bessere Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden, Therapieangebote, externes Monitoring. Der Osnabrücker Bischof setzt dabei stark auf außerkirchliche Experten – Staatsanwälte, Ärzte, Bewährungshelfer. Ein paar davon sind schon installiert. Thomas Veen zum Beispiel, Präsident des Landgerichts Osnabrück. Weitere werden folgen.
Martin Schmitz, Opfer sexueller Gewalt
Auch Bode selbst ist Teil des Anti-Missbrauchs-Teams. Um den „systemischen Nährboden für den Missbrauch“ kümmert er sich, um „eine zu enge Sexualmoral in der Kirche“, den „Umgang mit Macht und Hierarchie“.
„Prävention ist nie zu Ende“, sagt Hermann Mecklenfeld, seit 2011 Leiter der „Koordinationsstelle zur Prävention von sexuellem Missbrauch“ des Bistums. Seine Koordinationsstelle arbeitet mit der Osnabrücker Theaterpädagogischen Werkstatt zusammen, die mit dem Stück „Ich werde es sagen!“ nach der Autobiografie des dänischen Missbrauchsopfers Kristian Ditlev Jensen auf Tour ist.
Über 30 Mal ist das Stück bisher vor Bistumsmitarbeitern aufgeführt worden, vom Lehrerkollegium bis zur Dekanatspastoralkonferenz. Reinhard Gesse, Geschäftsführer und -Schauspieler der Werkstatt: „Oft ist es danach eine Weile total still. Du spürst die Betroffenheit. Aber dann fallen Sätze wie: ‚Genau richtig! Das müssen alle wissen!‘“ Einmal habe sich dabei sogar ein Opfer geoutet, ein junger Priester. „Er kam zu mir und sagte: ‚Es gibt nicht nur Täter in der Kirche!‘“
Auch in Schwagstorf sind sie mit dem Theaterstück gewesen, das wiederum nur wenige Fahrminuten von Merzen entfernt liegt, einer Gemeinde im Landkreis Osnabrück. Seit 2018 weiß jeder, was in Merzen geschehen ist, in den 1980ern und 1990ern: Herrmann H., Pfarrer der St.-Lambertus-Gemeinde, heute 85, hat Kinder und Jugendliche sexuell genötigt und missbraucht, im Zeltlager, bei der Seelsorge in der Pfarrei – 16 Betroffene haben sich bis jetzt gemeldet.
Entlassung aus dem Klerikerstand
Die Taten sind verjährt, strafrechtlich nicht mehr verfolgbar. Aber straflos bleibt H. nicht: Bode hat Disziplinarmaßnahmen verhängt. Keine Seelsorge mehr, keine öffentlichen liturgischen Handlungen. Bodes Ziel ist es, H. aus dem Klerikerstand zu entlassen. „Das wäre die Maximalstrafe“, sagt Hermann Haarmann, Pressesprecher des Bischöflichen Generalvikariats. „Aber sie bedarf der Zustimmung des Vatikans, und die steht noch aus.“
Merzen ist kein Einzelfall. 35 Beschuldigte listet das Bistum Osnabrück für den Zeitraum von 1946 bis heute, 84 Betroffene. „Die Dunkelziffer“, räumt Haarmann ein, „dürfte allerdings hoch sein.“ Doch die Zeiten, in denen Missbrauchsfälle auch im Bistum Osnabrück möglichst kirchenintern geregelt wurden, sind vorbei, versichert er: „Wir arbeiten eng mit der Staatsanwaltschaft zusammen.“ Die Deutsche Bischofskonferenz, Bonn, formuliert da verhaltener: „Hinsichtlich der Problematik der Vertuschung“zeichne sich ein „Mentalitätswandel“ ab, sagt Daniela Elpers, die stellvertretende Pressesprecherin.
Auch in Bodes Bistum hat es Fehleinschätzungen und Versäumnisse gegeben. Gerade auch im Fall H. Denn der ist, streng genommen, schon über 20 Jahre alt. 1997 hatte Bode H. in den vorzeitigen Ruhestand versetzt, aufgrund von „Gerüchten“, wie Bode Ende 2018 in einem offenen Brief an die Merzener Gemeindemitglieder schreibt. Aussagen, „aufgrund derer man hätte eine Anzeige erstatten können“, habe es nicht gegeben. Zudem stritt H. alles ab. Erst Ende 2017 verdichtete sich der Verdacht.
Peinliches Grußwort
Unangenehm für Bode: Als Mitglied der Gemeinde Mariä-Himmelfahrt Hagen-Gellenbeck bei Osnabrück war Herrmann H. nach 1997 weiterhin in der seelsorgerischen Arbeit tätig, auch mit Kindern. 2016 schrieb Bode ihm für das Hochamt zur Feier des 50. Jahrestags seiner Priesterweihe gar ein Grußwort. Im Sommer 2017 besuchte H. zudem das Kinder- und Jugendzeltlager der Kirchengemeinde. „Allerdings, ohne da zu übernachten“, sagt Hermann Hülsmann, seit August 2018 Pfarrer der Pfarreiengemeinschaft St. Martinus Hagen und Mariä Himmelfahrt Hagen-Gellenbeck, und er sagt es nicht entschuldigend, nur als Fakt. Was damals geschehen ist, war vor seiner Zeit, aber es empört ihn.
Ebenfalls unangenehm für Bode ist ein Missbrauchsfall, der erst vor wenigen Tagen öffentlich wurde. Anfang der 1960er sei er mehr als ein Jahr lang durch den Leiter eines bischöflichen Knabenkonvikts in Meppen missbraucht worden, so der Betroffene. Schon vor neun Jahren habe er sich an die Bistumsverwaltung gewandt. Bistumssprecher Haarmann räumt diesen Kontakt ein. „Im März 2010 kam ein Brief von ihm, an Bode. Aber in einem Gespräch mit Domdechant Heinrich Silies, dem damaligen Missbrauchsbeauftragten, sagte er, er wolle nicht, dass der Fall weiter verfolgt werde.“ Ein Fehler, dass nicht trotzdem die Staatsanwaltschaft eingeschaltet wurde? Haarmann: „Sicher. Heute würden wir sagen: Wir tun das, auch wenn Sie das nicht möchten.“
Die Studie „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“, vorgestellt auf deren Herbst-Vollversammlung Ende September 2018 in Fulda, zählt 3.677 sexuell Missbrauchte und 1.670 beschuldigte Kleriker. Einer, der die Hölle sexueller Gewalt erlebt hat, ist Martin Schmitz. Über ein Jahr lang wurde Schmitz von Heinz Pottbäcker missbraucht, einem Kaplan, Anfang der 70er, als Messdiener der Pfarrgemeinde Zur Heiligen Familie in Rhede.
Pottbäckers Pädokriminalität war der Kirche seit Ende der 60er bekannt, aber sie hielt ihn, versetzte ihn lediglich, wenn erneut Vorwürfe laut werden, „einigte sich“, sagt Schmitz, „mit der Staatsanwaltschaft auf milde Strafen“. Pottbäcker war 34, als Schmitz ihn kennenlernte. Als die Kirche ihn endlich entließ, war er 58.
Angstschübe und Depressionen
„Erst habe ich versucht, alles zu verdrängen“, sagt Schmitz, der heute eine Selbsthilfegruppe leitet, „aber das holt dich immer wieder ein.“ Er litt unter Angstschüben, Depressionen und psychogenen Krampfanfällen, beging einen Selbstmordversuch, machte Therapien. Vieles in seinem Leben scheiterte, wegen der Bilder in seinem Kopf. Er brach sein Studium ab, betäubte sich durch jahrelanges Reisen.
2012 hatte Schmitz einen Totalzusammenbruch. Er nahm ihn zum Anlass, den Fall Pottbäcker beim Bistum Münster anzuzeigen – der Täter war da schon tot. „Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass mir wirklich jemand zuhört, glaubt, helfen will, und das war schlimm. Jahre vergingen, und nichts tat sich.“ Ein Kirchenjurist besuchte ihn – und ein Dreivierteljahr später wurden ihm 8.000 Euro überwiesen, als „Anerkennung des Leids“– ein Hohn. Es dauerte bis 2018, bis das Bistum öffentlich seine Schuld einräumte.
„Lange hat man nur über uns Betroffene geredet, nicht mit uns“, sagt Schmitz. Es zeichne sich innerkirchlich ein Entwicklungsprozess ab. Aber der sei „noch dürftig“. Schmitz, der mit Anfang 20 aus Kirche ausgetreten ist, schließt nicht aus, dass Franz-Josef Bode „sich Reformen vorstellen kann“. Aber „wirklich kritische Bischöfe“ gebe es nicht. „Wer Bischof wird, war vorher sein halbes Leben lang in Positionen, in denen er Mitarbeiter geführt hat. Auch die, die zu Tätern wurden.“ Pause. „Klärt die Mafia ihre eigenen Verbrechen auf?“
Kirche als Unterdrückungsinstrument
Schmitz sieht die Kirche noch immer als Unterdrückungsinstrument. Ändere sich nichts Grundsätzliches an ihren Machtstrukturen, ihrer Sexualmoral, ändere sich nichts. „Mein Fall ist kein Einzelfall. Der ist systemimmanent.“ Und dann sagt er noch: „Betroffene haben lebenslänglich.“
Grundsätzliches ändern? Wer die Bischofskonferenz fragt, ob Kleriker, die zu Tätern werden, nicht mit sofortiger Wirkung aus Priesteramt und Gemeindearbeit zu entfernen sind, bekommt eine ausweichende Antwort: Man behandele die „Versetzung von Tätern bzw. der Weiterbeschäftigung im kirchlichen Dienst mit äußerster Schärfe und Sorgfalt“, sagt Pressesprecherin Elpers. Grundsätzlichkeit sieht anders aus.
Die 8.000 Euro, die Schmitz bekam, sind übrigens mehr als der Durchschnitt. Insgesamt wurden bis Februar 2019 für rund 1.900 Anträge auf „Leistungen in Anerkennung des Leids“ rund neun Millionen Euro in Ansatz gebracht. Bei 1.000 Euro fängt der Empfehlungskatalog an, der Durchschnitt liegt bei 5.000.
Bistumssprecher Haarmann sind solche Summen eher peinlich. „Gut, das sind keine Entschädigungen. Taten wie diese können ohnehin nicht entschädigt werden, und jede Zahlung hat immer ein bisschen den Ruch des Sichfreikaufens. Aber in Fällen, in denen der Betroffene schwere finanzielle Schäden erlitten hat, etwa, indem er keinen Beruf erlernen oder ausüben kann, sollte es schon einen adäquaten Ausgleich geben.“
Zwei Jahre auf Bewährung
Das geringe Strafmaß mancher Missbrauchs-Gerichtsverfahren wundert ihn. Etwa bei dem von 1996, kurz nach Bodes Amtsantritt. „Da war ich mit im Gerichtssaal. Es ging um einen Priester aus Haren, Emsland. 14 Jungen hat er missbraucht. Zwei Jahre auf Bewährung hat er bekommen. Plus ein paar Geldstrafen.“ Haarmann schüttelt den Kopf. „Wir haben ihn in den Ruhestand versetzt.“
Es gibt Dinge, die lassen sich auf Bistumsebene regeln. Mehr Konzentration auf Betroffene zum Beispiel. Andere sind dickere Bretter. Das Zölibat etwa. Da geht nur was (oder eben nichts) über Rom. Haarmann: „Aber wir können dazu beitragen, ein Bewusstsein zu wecken.“
Das gilt auch für die Frühjahrsvollversammlung der Bischofskonferenz vergangene Woche in Lingen. Bode trat dort an, sein Konzept der Offenheit auf die Bundesebene zu stemmen. Leicht war das nicht, schließlich war auch der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer da, der in seiner Predigt vom 27. Januar diesen Jahres sagte: „Die Rede von einem Neustart oder einer epochalen Wende ist gefährlich, nicht nur weil sie die Kontinuität der Kirche mit ihrem apostolischen Ursprung zu verdunkeln droht, sondern vor allem auch deshalb, weil sie nur menschlich-organisatorisch gedacht ist und so zu großer Frustration und Enttäuschung führen kann, nicht zuletzt auch zu Unfrieden und Spaltung.“
Am Ende einigten sich die Bischöfe in Lingen auf weitere Gespräche – zu wenig, fand die katholische Reformbewegung „Wir sind Kirche“: „Das Zeitfenster, in dem die Kirche ihre Glaubwürdigkeit wiedererlangen kann, schließt sich“, sagte ihr Sprecher Christian Weisner.
Während der Beratungen versammelten sich vor dem Tagungsgebäude in Lingen ein Dutzend Gläubige, um für die Bischöfe zu beten.
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