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Jetzt dürfen erst mal alle wählen

Bundesverfassungsgericht: Wahlrechtsausschlüsse für vollbetreute Behinderte und psychisch kranke Straftäter sind verfassungswidrig. Neue Einschränkungen wären möglich

Aus Karlsruhe Christian Rath

Während die Reform des Wahlrechts im Bundestag nicht vorankommt, hat das Bundesverfassungsgericht jetzt Fakten geschaffen. Die bisherigen Regelungen zum Wahlrechtsausschluss bestimmter Behinderter und psychisch Kranker wurden für nichtig erklärt – mit sofortiger Wirkung. Falls es im Bundestag keine Mehrheit für eine Neuregelung gibt, wird es keine Wahlrechtsausschlüsse mehr geben.

Bisher sind Menschen, für die in allen Angelegenheiten ein rechtlicher Betreuer bestellt ist, vom Wahlrecht ausgeschlossen. Betroffen sind bundesweit rund 81.000 Personen. Auch Straftäter, die bei Begehung der Tat schuldunfähig waren und deshalb in der Psychiatrie untergebracht sind, dürfen derzeit nicht wählen. Hier geht es um rund 3.000 weitere Personen.

Gegen die Bundestagswahl 2013 hatten deshalb sieben Betroffene, die nicht wählen durften, Wahlbeschwerde erhoben. Organisiert wurde das Verfahren von der Bundesvereinigung Lebenshilfe und der Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP). Sie wollten damit nicht die Ungültigkeit der Bundestagswahl erreichen, sondern eine Korrektur des Bundeswahlgesetzes für die Zukunft. Nachdem der Bundestag die Wahlbeschwerde abgelehnt hatte, landete das Verfahren beim Bundesverfassungsgericht und hatte dort jetzt Erfolg.

Die Regelungen zum Wahlrechtsausschluss verstoßen gegen das Prinzip der allgemeinen Wahl und diskriminieren zudem Behinderte, so der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts. Die betroffenen Gruppen würden „ohne hinreichenden sachlichen Grund“ von der Wahl ausgeschlossen. Es werde Menschen das Wahlrecht verwehrt, die teilweise durchaus selbstbestimmt wählen könnten, während andere Gruppen wählen dürfen, obwohl an ihrer Kommunikations- und Entscheidungsfähigkeit Zweifel bestehen.

So hänge es von Zufälligkeiten ab, ob gerichtlich ein Betreuer „in allen Angelegenheiten“ bestellt wird oder ob dies nicht erforderlich ist, weil jemand schon frühzeitig in einer Vorsorgevollmacht bestimmt hat, wer ihn später einmal vertritt. So dürfen die rund 700.000 Demenzkranken ganz überwiegend wählen.

Auch der Ausschluss von schuldunfähigen Straftätern überzeugte die Richter nicht. Wenn die psychische Beeinträchtigung – etwa ein Wahnzustand – punktuell während einer Straftat vorlag, sei damit nicht dauerhaft die Wahlfähigkeit beeinträchtigt. Das Verfassungsgericht hält Wahlausschlüsse allerdings nicht generell für unzulässig. Personen, „die typischerweise nicht über die Fähigkeit zur Teilnahme am demokratischen Kommunikationsprozess verfügen“, könnten von der Wahl per Gesetz durchaus ausgeschlossen werden, so die Richter.

Hierfür wäre aber ein neues Gesetz erforderlich. Ob sich die Koalition derzeit einigen kann, ist fraglich. Im rot-schwarzen Koalitionsvertrag heißt es einerseits: „Wir wollen ein inklusives Wahlrecht für alle.“ Die CDU/CSU-Fraktionsspitze hat zuletzt jedoch vorgeschlagen, in fraglichen Fällen gerichtlich feststellen zu lassen, ob jemand noch wählen kann.

Betroffen sind rund 81.000 Personen, die bisher vom Wahl­recht ausgeschlossen sind

Die SPD lehnt solche Einzelfallprüfungen generell ab. „Wir werden schon aus geschichtlichen Gründen keine Kriterien aufstellen, wann jemand wahlfähig ist und wann nicht“, sagte der SPD-Abgeordnete Matthias Bartke zur taz.

Auch Grüne, Linke und FDP wollen die Wahlausschlüsse generell abschaffen. „Wir könnten zumindest für die Europawahl schon weiter sein, wenn die Große Koalition ihre Verabredung im Koalitionsvertrag ernst genommen und einen diskriminierungsfreien Gesetzentwurf vorgelegt hätte“, sagte Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Sie fordere die Koalitionsfraktionen auf, nun „schnellstmöglich eine verfassungsfeste Rechtslage herzustellen“.

Das Karlsruher Urteil gilt nur für Bundestagswahlen. Nur dort gibt es jetzt keine Ausschlüsse mehr. Mit Blick auf Europa- und Landtagswahlen muss der jeweilige Gesetzgeber noch aktiv werden. Für die EU-Wahl am 26. Mai könnte das knapp werden. Die Grünen haben für den 15. März eine Abstimmung beantragt.

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