piwik no script img

Astralleiber im sozialen Organismus

Die erste Waldorfschule gründete Rudolf Steiner vor 100 Jahren. Sie sollte Grundstein einer Bewegung für eine Gesellschaftsordnung nach biologischen Prinzipien sein. Von anderen reform­pädagogischen Ansätzen unterschied sie sich vor allem durch den esoterischen Kern

Reformer mit ganz eigenen Erkenntnissen: Rudolf Steiner Foto: dpa

Von Andreas Speit

Mit einer Bitte hatte alles begonnen. Vor hundert Jahren hatte der schwäbische Unternehmer Emil Molt, Eigentümer der Zigarettenfabrik Waldorf-Astoria, sich an Rudolf Steiner gewandt, den Begründer der Anthroposophie. Molt, selbst Mitglied der Anthroposophischen Gesellschaft, wollte eine Schule gründen und bat Steiner, die Gestaltung, die pädagogische Leitung und die Entwicklung des Lehrplans zu übernehmen. Molt erwarb das Schulgebäude auf der Stuttgarter Uhlandshöhe. Am 7. September 1919 eröffnete dort die erste Waldorfschule.

Keinen Monat zuvor, am 11. August 1919, hatte Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) die Weimarer Verfassung unterzeichnet. Gewaltenteilung, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Trennung von Staat und Kirche, Wahlrecht für Frauen oder Schulpflicht waren für weite Teile der Eliten Verrat an Volk und Vaterland – und am Göttlichen und Spirituellen.

Der Erste Weltkrieg wirkte nach. Die neuen demokratisch gewählten Autoritäten wurden wenig geschätzt, die Monar­chie hatte sich selbst diskreditiert. In den Schützengräben hatten moderne Technik und Kriegsführung mit Giftgas und Flammenwerfer die Hoffnung erschüttert, Wissenschaft und Vernunft könnten zu einer humanistischen Welt führen.

Alternative Ideen und esoterische Visionen blühten. Neue Wege wurden gesucht – auch in der Pädagogik. Schon im November 1918 hatte Steiner begonnen, in der Öffentlichkeit seine Idee zur Neugestaltung der sozialen Ordnung für die gesamte Welt vorzutragen. Während des Krieges war Steiner ein gefragter Referent. Vor einem konservativ-nationalistischen Publikum warnte er vor den Gefahren der Niederlage für die „deutsche Nation“, machte Juden, Freimauer und Theosophen für den Krieg verantwortlich. 1902 hatte er selbst noch die deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft geleitet. Man trennte sich im Streit – unter andern über die Reinkarnation Christi .

Am 28. Dezember 1912 wurde die Anthroposophische Gesellschaft mit Steiner als Ehrenpräsident gegründet. Er wurde ihr wichtigster Redner – bis zum Lebensende hielt er über 5.000 Vorträge. Das Gesamtwerk beim Rudolf-Steiner-Verlag sollte auf 350 Bände anwachsen.

Steiners Idee der neuen sozialen Ordnung – die Dreigliederung des „sozialen Organismus“ – bewegte nicht nur den Zigaretten-Unternehmer. Die Grundidee: „Der soziale Organismus ist gegliedert wie der natürliche. Und wie der natürliche Organismus das Denken durch den Kopf und nicht durch die Lunge besorgen muss, so ist dem sozialen Organismus die Gliederung in Systeme notwendig, von denen keines die Aufgabe des anderen übernehmen kann, jedes aber unter Wahrung seiner Selbständigkeit mit den anderen zusammenwirken muss“, so Steiner.

Die Biologie wird zum Leitmotiv im Sozialen. Die Gründung der Schule betrachtete Steiner nicht als isoliertes Projekt, sondern als den Anfang einer Schulbewegung, um die „gesamten sozialen Gestaltungspläne auch der nichtanthro­posophischen Bevölkerung“ nahezubringen, schreibt der Anthroposoph Adolf Baumann im „Wörterbuch der Anthroposophie“ – eine esoterische Missionierung.

Ein Gespräch mit einem Vorarbeiter im Herbst 1918 sei Molt im Gedächtnis geblieben, schreibt der Bund der Freien Waldorfschulen. Der habe ihm voller Stolz von seinem Sohn erzählt, der die Aufnahmeprüfung in das Gymnasium geschafft hatte. Am 23. April des folgenden Jahres lud Molt Steiner ein, in seiner Fabrik vor seinen Arbeitern einen Vortag über Bildung zu halten. Aus der Belegschaft heraus sei der Wunsch geäußert wurden, eine Schule für ihre Kinder einzurichten. Fünf Monate später hatte Molt die Idee mit 2,25 Millionen Reichsmark Eigenkapital umgesetzt. Den Unternehmer sorgte die damalige Entwicklung im sozialistischen Russland ebenso wie die des wirtschaftsliberalen Westens. Ein dritter Weg wurde gesucht – und esoterisch gefunden.

In den Jahren 1906 und 1907 hatte Steiner Vorträge über „die Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft“ gehalten. Die „Geisteswissenschaft“ – gemeint sind seine anthroposophischen Erkenntnisse – wird bis heute nicht als Lehrfach unterrichtet. Sie prägt aber Lehrplan und Schulalttag.

Der Ansatz einer Reformschule war Anfang des 19. Jahrhunderts kein Alleinstellungsmerkmal. Verschiedene reformpädagogische Vorstellungen wurden verhandelt. Sie alle hatten vier Ansätze gemeinsam: Die Erziehung sollte sich am Kind orientieren, die Bedeutung der Kunst wurde betont, die Erziehung sollte zu einer ganzheitlichen Menschenbildung führen und das pädagogische Programm beruhte auf einer tiefgreifenden Kulturkritik.

In der Kritik an der Waldorfpädagogik heißt es häufig, das besondere Merkmal ihrer Päda­gogik seien allein die esoterischen Weisheiten ihres Gründers. Diese angenommenen Erkenntnisse spiegeln sich im Konzept der „Temperamente“ wider, nach dem jedes Kind eine Mischung der vier Temperamente in sich trägt: Melancholiker, Phlegmatiker, Sangui­niker oder Choleriker. Den Temperamenten werden spezielle Eigenschaften fest zugeschrieben.

In der Schulzeit sei zudem zu berücksichtigen, dass die Entwicklung der Kinder nach Steiner in Jahrsiebten verläuft. Die Kinder würden ab dem Zahnwechsel erst einen „Ätherleib“ und mit der Pubertät einen „Astralleib“ entwickeln. Diese Annahme kann den kleinen Menschen als nicht gleichwertigen Menschen erscheinen lassen. Die Lehrkraft ist spirituell immer höher stehend.

„Man will nicht nur Rudolf Steiner, den Kämpfer für das deutsche Wesen, sondern deutsche Treue selbst herabsetzen“

Steiners Nachfolger Albert Steffen 1933

Schon früh wurde eine mystisch verklärte Germanen- und Deutschtümelei in Steiners Geisteswissenschaft hinterfragt. Die Anthroposophie nutze sie aber auch – im Nationalsozialismus.

Im Februar 1934 zeichnete sich ab, dass die Waldorfschule in Stuttgart geschlossen wird. Der damalige Leiter der Waldorfschule in Hannover, René Maikowski, schrieb Adolf Hitler an. „Hochverehrter Herr Reichskanzler!“, begann er und legte dar, es sei wohl nicht bekannt, dass „das Lebenswerk“ Steiners „aus den tiefsten Grundlagen und der innersten Kraft des deutschen Geistes erwachsen“ sei. In keiner Schule würde so eingehend „das deutsche Märchen, die deutsche Mythologie und Heldensagen (…) behandelt“. Sie hätten sich zudem dem „materialistischen Zeitgeist“ entgegengestellt. Nicht „so sehr aus der Sorge um das Bestehen einiger Schulen“ habe er sich an den Führer gewandt, „als vielmehr aus dem Bewußtsein der Verantwortung“ für die Erhaltung der „deutschen Kultur“.

Im selben Tenor äußerte sich Steiners Nachfolger als Erster Vorsitzender der Anthroposophischen Gesellschaft, Albert Steffen, schon 1933. Aus Sorge um die richtige Steiner-Interpretation schrieb er an die Gauleitungen: „Man will nicht nur Rudolf Steiner, den Kämpfer für das deutsche Wesen, sondern deutsche Treue selbst herabsetzen.“ Steiners Sekretär Guenther Wachsmuth sagte dem dänischen Extrabladet 1933: „Ich äußere mich ungern über Politik. Aber es soll kein Geheimnis sein, daß wir mit Sympathie auf das schauen, was zur Zeit in Deutschland geschieht. Es muß Bewegung da sein und die mutige und tapfere Weise, wie die Führer des neuen Deutschlands sich der Probleme bemächtigen, kann meiner Meinung nach nur Bewunderung erzwingen.“

In der Anthroposophie ist das Verhalten zwischen Taktieren, um Lehrkörper und Schülerschaft zu schützen, und überzeugtem Positionieren umstritten. In den Flensburger Heften – Anthroposophie im Gespräch schrieb Arfst Wagner schon vor Jahren: „Mann muss auch fragen dürfen, wo das anthroposophische Engagement gewirkt hat. (…) Hätte ein echter geistiger Impuls nicht doch vieles verhindert (…)?“.

1936 lösten sich sechs Waldorfschulen auf, erst 1941 schlossen die letzten drei Schulen. Mit dem Abflug von Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß am 10. Mai des Jahres hatte die Anthroposophie einer Förderer verloren.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen