Die Bibliothek für Berlin (Teil 2): „Wir öffnen die Bibliothek für Diskurse“
Bücher allein machen noch keine Bücherei – für Volker Heller von der Zentral- und Landesbibliothek soll die ein Ort des Wissensaustauschs sein.
taz: Herr Heller, vergangenen Sommer wurde entschieden, dass es einen Neubau für die Zentral- und Landesbibliothek, die ZLB, gibt. Gerade befragen Sie Ihre Nutzer, was sie sich für den Neubau wünschen. Welche Bibliothek braucht Berlin?
Volker Heller: Berlin ist eine Metropole mit bald vier Millionen Einwohnern, da braucht es nicht nur eine Bibliothek, sondern ein ganzes Bibliotheksnetz. Die Bibliotheken können ein stabiler Faktor für die demokratische Gestaltung unseres Lebens in unruhigen Zeiten sein. Dazu gehört, dass sie in der Fläche der Stadt präsent sein müssen. Dazu gehört aber auch eine öffentliche Zentralbibliothek, die in ihren Angeboten und Möglichkeiten weit über die dezentralen Standorte hinausgeht. Die ZLB ist hierfür in Berlin vor allem räumlich nicht entsprechend ausgestattet. Und deshalb planen wir ja schon sehr lang die Zusammenführung und Erweiterung der ZLB unter einem Dach.
Die neue Bibliothek soll um die Amerika-Gedenkbibliothek, die AGB, herumgebaut werden, den am meisten frequentierten Standort der ZLB, genau zwischen Bergmannkiez und Mehringplatz, einem stark gentrifizierten und einem stark abgehängten Kiez. Sollen sich dort alle Teile der Stadtgesellschaft treffen?
Ja, aber das ist nur ein Aspekt. Die Stadtgesellschaft trifft sich auch bei Hertha BSC im Olympiastadion. Die Frage ist, was das Treffen in einer Bibliothek besonders macht. Und ich glaube, das Besondere ist erstens, dass man keinen Eintritt bezahlt und keinen Konsumzwang hat. Zweitens ist die Bibliothek ein wissenbasierter Raum. Wenn ich dort ins Gespräch komme, dann habe ich immer die Möglichkeit, die besprochenen Themen noch einmal rückzubinden auf die Bibliotheksbestände. Wissen wir eigentlich genug über das, worüber wir gerade reden? Oder wäre es sinnvoll, noch einmal eine Datenbank aufzurufen oder ein Buch aus dem Regal zu ziehen? Drittens müssen wir die Bibliothek auch als öffentlichen Ort begreifen, der der Stadt gehört. Wir müssen der Stadt die Möglichkeit geben, die Bibliothek mitzugestalten, bis hin zur Gestaltung der Angebote und Programmarbeit. Das entwickeln wir gerade erst neu und das löst für uns als Bibliotheken auch gewaltige Veränderungsprozesse aus.
Ist die Bibliothek ein Bollwerk gegen Fake News und Populismus?
Ja, unbedingt. Bibliothek ist der Ort, an dem wir überprüfen können, was wir zu wissen glauben. Aber mit dieser Auseinandersetzung öffnen wir die Bibliothek auch für Diskurse. Die Bibliothek ist nicht mehr nur der stille, sakrale Raum der Kontemplation, wie manche von uns das vielleicht noch traditionell erwarten, sondern auch ein Ort des Wissenstransfers zwischen Menschen.
Volker Heller,
geb. 1958, seit 2012 Vorstand der Stiftung Zentral- und Landesbibliothek Berlin (ZLB)
Wie gefallen Ihnen denn die Vorschläge Ihrer Nutzer, was im Neubau passieren soll?
Zum Teil haben uns die Anregungen in unserer Vermutung bestätigt, dass wir ein sehr hybrides Raum- und Funktionsprogramm werden entwickeln müssen. Wir brauchen unterschiedliche Bibliotheksbereiche. Das klassische Thema ist etwa laut und leise. Da hingen teilweise Zettel nebeneinander, und auf dem einen stand, dass es viel zu laut sei, und auf dem anderen, wie toll es sei, dass man endlich miteinander diskutieren kann. Das in einem Neubau zu managen: Das wird eine große Herausforderung, auf die wir uns in der Bibliothek sehr freuen.
Braucht es für die neue Bibliothek noch das gebundene Buch?
Ich persönlich glaube, dass es das gebundene Buch noch sehr lang geben wird. Es ist ein Gegenstand, der von vielen Menschen geliebt wird, auch von mir. Ich denke: Bei der Einführung des Kinos hat man den Abgesang aufs Theater angestimmt, bei der Einführung des Fernsehens aufs Kino, beim Internet aufs Fernsehen. Alle Medien existieren allen Abgesängen zum Trotz bis heute nebeneinander.
Eine der meistbeachteten Bibliotheken, die in letzter Zeit eröffnet haben, ist das Dokk1 im dänischen Aarhus, die größte öffentliche Bibliothek Skandinaviens. Dort werden alle Bücher aussortiert, die länger als zwei Jahre nicht entliehen wurden.
Da, wo Neues reinkommt, muss Altes raus schon aus Gründen des begrenzten Platzes. Aber pauschal nach zwei Jahren aussortieren: das machen wir als ZLB nicht. Wir haben ja als Landesbibliothek auch einen Sammlungsauftrag. Das heißt, wir erhalten Pflichtexemplare aller Publikationen, die in Berlin erschienen sind, und sind verpflichtet, diese aufzuheben. Aber auch sonst prüfen wir sehr genau, welche Medien im Sinne unseres Auftrags für lange Zeit im Bestand bleiben sollen.
In Aarhus gibt es heute Nähwerkstätten und Computerkurse, Repair-Cafés und Workshops für SeniorInnen, die nicht wissen, wie sie ihren Pass online verlängern können. Schweben Ihnen solche Angebote auch in der neuen ZLB vor?
Letzteres unbedingt. Wir planen Bürger-Terminals für Menschen, die abgehängt sind von den neuesten digitalen Entwicklungen. Auch bei Näh- und Kochkursen geht es genau um den Wissensaustausch zwischen Bürgerinnen und Bürgern, den ich eben beschrieben habe und den wir jetzt schon befördern, soweit unsere Räumlichkeiten es zulassen.
In der Erzählungen erfolgreicher Menschen mit Migrationshintergrund taucht immer wieder auf, dass sie ohne die Bibliotheken nie hingekommen wären, wo sie heute sind. Schneidet man sich nicht ins eigene Fleisch, wenn man diesen Leuten Nähkurse anbietet statt Bücher?
Es ist ja nicht so, dass man immer nur das eine oder das andere machen kann. Es muss für alle Bedürfnisse einen Ort geben. Mit mehr Fläche wird die ZLB sehr viel breiter und niedrigschwellig Bedürfnisse abdecken können, als sie es jetzt schon tut.
Es wurde auch Kritik laut, dass die große Bibliothek in Aarhus nur auf Kosten der kleinen gebaut werden konnte. Gerade die Bibliotheken in den migrantisch geprägten Stadtteilen hätten Geld und Stellen abtreten müssen. Muss man solche Entwicklungen auch in Berlin befürchten?
Wir beobachten eher, dass gut funktionierende Neubauten, die stark besucht werden, insgesamt die Bereitschaft der Länder, Städte und Bezirke erhöhen, auch dezentral in ihre Bibliotheken zu investieren.
Wie sehen Sie derzeit die Haltung der Berliner Politik?
Es ist noch nicht lang her, dass die Politik sagte: Bibliotheken sind ja ganz sympathisch, aber braucht man so etwas überhaupt noch? Heute sind wir auf einem guten Weg, ganz andere politische Aufmerksamkeit für die Kraft zu gewinnen, die in unseren Institutionen steckt. Wir haben lange Zeit nicht gut genug kommuniziert, welche Potenziale unsere Bibliothekslandschaft in sich birgt.
Der Senat kündigt an, dass der Neubau um die 24.000 Quadratmeter Nutzfläche fürs Publikum haben könnte statt der bisherigen 2.400 in der AGB und der 4.500 in der Berliner Stadtbibliothek. Bekommen Sie da Herzrasen?
Ja! Diese enorme Erweiterung unseres öffentlichen Raums bietet so viele Chancen: Platz für Visionen und Raum zur Aneignung für unsere Stadtgesellschaft.
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