Obdachlose in Hamburg: Doppelt so viele wie vor neun Jahren
Wohlfahrtsverbände und die Sozialsenatorin deuten die Ergebnisse der jüngsten Obdachlosen-Befragung in weiten Teilen sehr unterschiedlich.
Unstrittig ist, dass sich die Zahl der auf der Straße Lebenden seit der letzten Zählung von 2009 dramatisch erhöht hat: von damals 1.029 auf 1.910. „Auf Hamburgs Straßen leben heute fast doppelt so viele Menschen wie vor neun Jahren. Das zeigt, dass die bisher ergriffenen Maßnahmen nur begrenzt wirken“, sagt AGFW-Sprecherin Sandra Berkling.
Sozialsenatorin Melanie Leonhard (SPD) sagte indes im Abendblatt, dass unter den 1.910 Obdachlosen der Anteil Deutscher relativ (von 70 auf 36 Prozent) und absolut (von rund 720 auf 680) gesunken ist. Das zeige, dass die jahrelange Präventionsarbeit greifen würde.
Nach Ansicht der AGFW ist das ein Trugschluss. Die Verbände bemängeln die Durchführung der Zählung. Einigen Trägern seien die Fragebögen nicht rechtzeitig oder in zu kleiner Zahl zur Verfügung gestellt worden. Auch hätten zugesicherte Dolmetscher gefehlt. Zudem sei es in den Monaten vor der Befragung zu „Polizeikontrollen, Freizügigkeitsüberprüfungen und Räumen von Platten“ gekommen. Die Obdachlosen hätten Angst gehabt, dass die zugesicherte Anonymität nicht eingehalten wird. Bei einem Träger hätten deshalb von 233 Menschen, die um Teilnahme gebeten wurden, 146 dies abgelehnt.
Fast keiner der Obdachlosen hofft auf staatliche Hilfen
Dennoch gebe es bei den Befragungen wichtige Erkenntnisse: So kamen 71 Prozent der obdachlosen Ausländer nach Hamburg, weil sie Jobangebote hatten oder sich eines erhofften. Nur 1,5 Prozent der Menschen hoffte auf staatliche Hilfen. Und nur 5,5 Prozent kamen über Vermittler, die sie nicht fair behandelten. Da die meisten Befragten arbeiten wollten, aber keine Bleibe fänden, fordert die AGFW die „Schaffung günstiger Arbeitnehmerpensionen für Arbeitsmigranten“. Und für jene, die nicht Fuß auf dem Arbeitsmarkt fassen können, „Zugänge ins soziale Sicherungssystem“.
Prekär ist die materielle Lage der Obdachlosen. Nur 29 Prozent beziehen Hartz IV, Rente oder Sozialhilfe. Fast jeder Vierte lebt vom Flaschensammeln (15,2 Prozent) oder Betteln (9,3 Prozent) oder hat gar kein Einkommen (14,3 Prozent). Von den Nicht-Deutschen bezieht gar nur jeder Zehnte staatliche Leistungen. „Bei den übrigen ist jedoch oft gar nicht klar, ob sie einen Rechtsanspruch haben“, sagt Berkling. Die Betroffenen wüssten es meist selbst nicht und trauten sich oft nicht, in eine Beratungsstelle zu gehen. Um diesen Menschen zu helfen, müssten die Beratungsangebote ausgebaut werden.
Leonhard ist bekannt für eine harte Linie
Besorgniserregend ist für die Hilfsverbände, dass die Zahl der Wohnungslosen, also jener Menschen, die sich in einer öffentlichen Unterkunft ein Zimmer teilen müssen und keine eigenen vier Wände haben, gestiegen ist. Lebten 2009 noch 2.924 Personen in öffentlichen Unterkünften, sind es derzeit 5.210.
Die meisten Menschen lebten länger als ein Jahr dort. Deshalb müsse die Saga 2.000 der jährlich freiwerdenden Wohnungen an akut Wohnungslose vergeben. Etwa ein Viertel dieser Menschen hat die Wohnung durch Zwangsräumung oder fristlose Kündigung verloren. Hier müsse die Prävention besser werden. Denn die dafür eingerichteten „Fachstellen“ schafften es bei 20 Prozent der Fälle nicht, den Wohnungsverlust zu verhindern.
Die AGFW fordert, die Studie dürfe nicht folgenlos bleiben. Der Senat müsse „erhebliche finanzielle Mittel“ bereitstellen. Senatorin Leonhard verweist darauf, dass Hamburg mit 81 Einrichtungen ein umfangreiches Hilfssystem habe. Sie warnt, staatliche Hilfsangebote für Menschen aus Osteuropa würden auf EU-Ebene vereinbarte Prinzipien der Arbeitnehmerfreizügigkeit gefährden. Leonhard ist bekannt für eine harte Linie. Sie ließ 2017 im Winternotprogramm nicht-deutsche Obdachlose abweisen. Doch nun soll es bald eine Fachtagung geben, um mit den „Akteuren des Hilfesystems“ nach Lösungen zu suchen.
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