: Von Kollegen denunziert
Wie die Zeitung „Cumhuriyet“ eine neue Führung bekam und Journalisten im Gefängnis landeten – eine Geschichte von Intrigen und Verrat.
Von Ali Çelikkan
Am Morgen des 1. Oktober 2018 steht die Journalistin Pelin Ünker, 34, um acht Uhr auf. Sie bereitet das Frühstück für ihren 14 Monate alten Sohn Ali zu. Es wird ein entscheidender Tag in ihrem Leben werden. Sie geht zu Fuß zur Polizeiwache im Istanbuler Bezirk Fulya. Dort soll sie ihr Einkommen offenlegen.
Wegen eines kritischen Artikels hat der ehemalige Premierminister Binali Yıldırım sie verklagt, rund 78.000 Euro Entschädigung zu zahlen. Danach schiebt sie den Buggy mit Ali den Hang wieder hoch, diesmal zur Redaktion der Cumhuriyet. Es ist Ünkers letzter Tag bei der Cumhuriyet, denn sie hat gekündigt – nach zehn Jahren in der Wirtschaftsredaktion. Hier lernte sie ihren Beruf von der Pike auf.
Investigativrecherche im Mutterschutz
Als investigative Journalistin für Cumhuriyet hat sich Ünker einen Namen gemacht. Sie schrieb zum Beispiel eine Artikelserie zu den Paradise Papers, da war sie im Mutterschaftsurlaub. Wenn ihr Sohn schlief, verfolgte sie die Spuren von Tarnfirmen der Familien Albayrak (heute Finanzminister) und Yıldırım (damals Premier). Ünker sagt: „Ich habe nicht wegen meiner Karriere gekündigt. Es waren auch nicht politische Gründe, sondern moralische.“
Denn die jüngere Geschichte der Cumhuriyet erzählt von Intrigen und Betrug. Sie spielt vor dem Hintergrund einer Regierung, die jede Gelegenheit ergreift, echte oder vermeintliche Gegner hinter Gitter zu bringen. Ünker ist nicht allein. Seit dem 7. September 2018 haben mehr als 30 Mitarbeiter*innen bei Cumhuriyet, der ältesten Zeitung der Türkei, gekündigt. Grund dafür ist der Führungswechsel an der Spitze der Stiftung, die das Blatt herausgibt.
Mit der Wahl des ehemaligen Stiftungsfunktionärs Alev Coşkun und des ehemaligen Ankara-Korrespondenten Mustafa Balbay zu Vorsitzenden der Stiftung lautet das neue Motto der Zeitung: Zurück zur alten Linie! Reset auf die Werkseinstellungen von 1924, als die Zeitung auf Wunsch des Staatsgründers Kemal Atatürk gegründet worden war. Allerdings: Eine Reihe jener, die nach der Neuausrichtung gingen, waren überzeugte Atatürk-Anhänger.
Alles begann mit einem vierseitigen Brief. Ein anonymer Verfasser beklagte am 22. März 2016 in einem Schreiben an das Generalsekretariat des Präsidialamts, die Zeitung Cumhuriyet sei „an die F-Organisation übergegangen“. Mit F-Organisation war „Fetö“ gemeint, die in der Türkei als Terrororganisation eingestufte Bewegung von Fethullah Gülen.
Der Briefschreiber behauptete, die Schlagzeilen der Cumhuriyet ließen ihm „als Türken das Blut gefrieren“. Es habe sich eine „organische Verbindung“ der Zeitung zu Gülen und der kurdischen HDP entwickelt. Das Schreiben lieferte gleich einen Plan mit, wie das Problem gelöst werden könne: Bei den Vorstandswahlen der Herausgeberstiftung habe es 2014 Unregelmäßigkeiten gegeben. Mit neuen Wahlen und einem Führungswechsel könnten die Verräter aus der Zeitung entfernt werden. „Mit einem Stein gleich mehrere Vögel erlegen“ nannte das der Denunziant. Der Stein wurde geworfen.
Am 22. August 2016, gut einen Monat nach dem Putschversuch, begannen Staatsanwälte, gegen die Zeitung zu ermitteln, nur wenige Monate später nahmen Polizisten die Leitungsriege des Blattes fest. Gerichte verurteilten inzwischen 14 Mitarbeiter wegen Beihilfe und logistischer Unterstützung von Terrororganisationen zu insgesamt 73 Jahren und drei Monaten Haft. Die Urteile sind noch nicht rechtskräftig. Die Wahlen in der Stiftung wurden wiederholt, eine neue Leitung kam ans Ruder. Alev Coşkun wurde neuer Vorsitzender.
Tora Pekin, der viele Jahre als Anwalt für Cumhuriyet gearbeitet und inzwischen gekündigt hat, sagt: „Die Geschichte wird sich an sie als Leute erinnern, die ihre eigenen Kollegen angeschwärzt haben.“ Die Verhandlungen des Cumhuriyet-Prozesses begannen im Juli 2017 und dauerten rund ein Jahr. Tora Pekin verteidigte die Mitarbeiter vor Gericht. „Wir haben keinen Zweifel daran, dass Alev Coşkun für den Brief an das Präsidialamt verantwortlich ist“, sagt er. „Die Anlagen und Zeitungsausschnitte des Briefes decken sich mit denen, die seiner Zeugenaussage beiliegen.“ Der neue Stiftungsvorstand Coşkun hat die Vorwürfe dementiert. Er wirft der taz in einem Beitrag für Cumhuriyet „einseitige Berichterstattung“ vor.
Als am 8. September die erste Zeitung unter der neuen Führung erschien, posierte Mustafa Balbay dabei, wie er eine Ausgabe küsste, und teilte das Foto in sozialen Medien. Derselbe Balbay, der nun auch in den Vorsitz der Stiftung gewählt wurde, hatte die Cumhuriyet im Februar 2016 auf Twitter beschuldigt, „Gülenismus und Kurdismus zu betreiben“. Dieser Tweet ging später in die Ermittlungsakten ein.
Bei einer Pressekonferenz im Juni 2017 erklärte Balbay wiederum, es sei nicht richtig, dass die Mitarbeiter in Haft sind. Dabei warf er aus Protest die Anklageschrift auf den Boden. Wie auch immer: Zwölf Cumhuriyet-Mitarbeiter landeten im Gefängnis. Anwalt Pekin hält die Statements der neuen Führung für unaufrichtig: „Man kann nicht sagen, die Zeitung sei von Fetö übernommen worden, und gleichzeitig erklären: ‚Aber ich glaube nicht, dass sie Fetö-Leute sind.‘“
Akten an die neue Verwaltung übergeben
Ob sie es nun gewollt haben oder nicht: Die Leute, die jetzt die Leitung der Zeitung übernommen haben, hätten eine wichtige Rolle dabei gespielt, dass ihre Kollegen ins Gefängnis und vor Gericht kamen, sagt Pelin Ünker: Das sei „unerträglich“.
Was bleibt von dieser unschönen Geschichte? Cumhuriyet, eine Zeitung, an die Menschen in Deutschland als Erstes denken, wenn sie „Pressefreiheit in der Türkei“ hören, macht nach dem fatalen Bruch weiter. Wer sich heute die Titelseite der Cumhuriyet anschaut, wird wohl kaum einen Unterschied zu früher bemerken. Es ist aber gut möglich, dass sich die Auswirkungen erst später zeigen.
Tora Pekin, der Anwalt, verteidigt die Cumhuriyet nicht mehr, er hat alle seine Akten der neuen Verwaltung übergeben. Die Akten der ehemaligen Mitarbeiter*innen hat er allerdings behalten, unter anderem die von Pelin Ünker. Er wird sie auch in Zukunft vertreten. Ünker muss am 8. Januar erneut vor dem Richter stehen.
Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe
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