heute in hamburg: „Ein Mord ist nur die Spitze des Eisbergs“
Gürsel Yıldırım, 50, arbeitet im sozialen Bereich und gehört zur Initiative zum Gedenken an Ramazan Avcı.
Interview Marthe Ruddat
taz: Herr Yı ldı rı m, heute vor 33 Jahren wurde Ramazan Avcı von rechtsradikalen Skinheads schwer verletzt. Er starb wenige Tage später. Warum ist es wichtig, an ihn zu erinnern?
Gürsel Yıldırım: Der Mord an Ramazan Avcıwar ein Wendepunkt in der Migrationsgeschichte. Danach sind zum ersten Mal 15.000 Menschen auf die Straße gegangen, um gegen Rassismus zu demonstrieren. In der Folge organisierten sich Türkischstämmige gegen Alltags- und strukturellen Rassismus. Auch wenn es heute nicht mehr so viele rassistische Morde gibt wie in den achtziger und neunziger Jahren, sind wir immer noch mit mörderischem Rassismus konfrontiert. Ein Mord ist nur die Spitze des Eisbergs, deshalb ist es wichtig, die Erinnerung wachzuhalten.
Die Initiative zum Gedenken an Ramazan Avcı gründete sich erst viele Jahre nach dem Mord. Warum?
Tatsächlich war es so, dass die Angehörigen und der Prozess um die Täter viel Aufmerksamkeit bekommen haben. Danach geriet das alles aber irgendwie in Vergessenheit. Das fiel dem Hamburger Anwalt Ünal Zeran auf. Nach einem Aufruf kamen über 20 Menschen zusammen und wir gründeten die Initiative gemeinsam mit den Angehörigen.
Ist der Mord dadurch wieder mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangt?
Auf jeden Fall. Wir konnten die Forderung durchsetzen, dass der Vorplatz an der S-Bahn Landwehr 2012 und die Bushaltestellen am Tatort nach Ramazan Avcıbenannt wurden. Eine Gedenktafel erinnert an ihn.
Wer kommt zu den jährlichen Gedenkveranstaltungen?
Gedenkkundgebung: 18-20 Uhr, Ramazan-Avcı-Platz (S-Bahnhof Landwehr)
Die Angehörigen von Ramazan Avcısind immer da. Es kommen auch Angehörige von anderen Opfern rassistischer Morde, zum Beispiel von NSU-Verbrechen. Letztes Jahr waren wir etwa 150 Menschen, darunter sind auch nicht direkt von Rassismus Betroffene, die Ramazan Avcısgedenken wollen.
Was bedeutet die Veranstaltung für die Angehörigen?
Für die Witwe war der erste Gedenktag eine Befreiung. Sie war davor ja lange Zeit allein mit ihrer Trauer. Und mit ihrem Sohn, mit dem sie zum Zeitpunkt des Mordes ja schwanger war. Natürlich kommt die Erinnerung an diese schlimme Zeit bei jeder Veranstaltung wieder hoch. Solche Erinnerungspraktiken sind aber für alle Angehörigen sehr wichtig, weil sie auch eine Art heilsame Therapie dieses Traumas sind.
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