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Die Wollhandkrabbe

zählt hierzulande zu den invasiven Arten, so wie auch das chinesische Kapital auf dem Hamburger Immobilienmarkt. Beide werden scheel angesehen, aber die chinesische Wollhandkrabbe hat sich schon lange vor dem Post-Maoismus in Europa ausgebreitet

Wollhandkrabbe, Eriocheir sinensis: Knackt man sie, läuft eine schmierige gelbe Flüssigkeit heraus Foto: Peter van der Sluijs/wikimedia Commens

Von Helmut Höge

Sie wird etwa handtellergroß, ihr runder Panzer ist oben braun, die Unterseite heller bis weiß, die Scheren haben einen dichten Haarpelz, daher der Name Wollhand. Gemeint ist die Chinesische Wollhandkrabbe (Eriocheir sinensis). Ihre kleinen Augen können rot aufglühen, wenn es darauf ankommt, las ich in einem Kinderbuch. Hierzulande zählt sie zu den invasiven Arten, so wie auch das chinesische Kapital auf dem Hamburger Immobilienmarkt. Beide werden scheel angesehen, aber die Chinesische Wollhandkrabbe hat sich schon lange vor dem Post-Maoismus in Europa ausgebreitet.

In China war noch Bürgerkrieg, da wurden 1935 in der Elbe schon 500 Tonnen chinesische Krabben gefangen. Auf Befehl der Naziregierung, die den Kampf gegen invasive Arten aus rassistischen Gründen quasi „erfand“, sammelten 1936 die Menschen in Norddeutschland über 20 Millionen Krabben ein. Geholfen hat es wenig, erst die Gewässerverschmutzung nach dem Krieg führte fast zu ihrer Auslöschung. Mit der Deindustrialisierung und den diversen Umweltschutzmaßnahmen erholte sich die Population jedoch wieder. Im Gegensatz zum chinesischen Kapital werden sie hier nun auch wieder bekämpft.

Aber nicht überall: In Havel, Spree, Elbe und in den märkischen Seen haben die Fischer zu DDR-Zeiten immer über die vielen Wollhandkrabben in ihren Netzen geklagt, die sie wegwarfen, aber seit der Wende verdienen sie damit nun gelegentlich mehr als mit ihren Fischen, weil die vietnamesischen Asia­märkte sie ihnen gern abnehmen – für etwa fünf bis acht Euro das Kilo. Im Berliner „Dong-Xuan-Center“, dem zweitgrößten Asiamarkt Europas, werden sie lebend verkauft.

In den Berliner Gewässern hat sich derweil noch eine andere „invasive Art“ ausgebreitet: der rote amerikanische Sumpfkrebs. In den vergangenen Monaten fing ein Fischer allein in den Teichen zweier städtischer Parkanlagen 38.000 Exem­plare. Er darf die Krebse verkaufen. Sie sind begehrt. Die alteingesessenen Chinesischen Wollhandkrabben ernähren sich zum Teil von den neuen amerikanischen Sumpfkrebsen.

Ob die Chinesischen Wollhandkrabben sich in den asiatischen Plastikwannen der vietnamesischen Händler heimischer fühlen als in den brandenburgischen Gewässern, darf man bezweifeln, denn sie haben, anders als die Sumpfkrebse, eine komplizierte Vermehrungsstrategie: Zwar leben sie im Süßwasser, auf dem Grund von Flüssen, wo sie sich vorwiegend von Pflanzen, Muscheln und Aas ernähren und in die Ufer graben, aber im Frühsommer wandern sie mit der Strömung in Richtung Meer. Im Brackwasser der Flussmündungen warten bereits die zuvor angekommenen Männchen auf die Weibchen, um sich mit ihnen zu verpaaren. Diese suchen danach noch salzhaltigeres Wasser auf, wo sie ablaichen – so halten es im Übrigen auch „unsere“ etwas kleineren Strandkrabben, die in der übrigen Welt als invasive Art gelten. Die etwa 500.000 Eier, die die weiblichen Wollhandkrabben zwischen ihre Hinterbeine kleben, brauchen vier Monate zur Entwicklung.

„Anschließend laufen die Weibchen zurück in die Brackwasserzone der Flussmündung und geben die schlupfreifen Eier ins Wasser ab. Danach sterben die Muttertiere; sie pflanzen sich also nur einmal fort. Auch die Männchen kehren nicht mehr zurück,“ heißt es auf Wikipedia. Wenn man sie zölibatär hält, leben beide etwas länger. Ihre Larven müssen sich fünf Mal häuten, bis sie wie kleine Wollhandkrabben aussehen. Im Süßwasser können sie erst als ausgewachsene Tiere leben. Dazu versammeln sie sich im Brackwasser und wandern dann kollektiv die Flüsse hoch .

Wenn die zum Beispiel vor der Elbemündung groß gewordenen Wollhandkrabben nach etwa 600 Kilometern flussaufwärts bei Barby in die dort einmündende Saale krabbeln, sind sie drei Jahre alt. Für 200 Kilometer brauchen sie mithin rund ein Jahr. Hindernisse wie Stauwehre umgehen sie auf dem Land. Sie wandern auch über Land zu Teichen, Gräben und Seen, wo sie sich ansiedeln – und dabei angeblich die „Ufer und Deiche unterhöhlen“. Wegen ihrer Paarung und Aufzucht in Salzwasser (die Ostsee ist ihnen bereits zu salzarm) sind ihrem Vorwärtsdrang im Süßwasser flussaufwärts aber Grenzen gesetzt, einige schaffen es immerhin bis in die Moldau nach Prag. Mit Beginn der Geschlechtsreife, nach zwei bis drei Jahren, drehen sie wieder um und beginnen ihre „Reproduktionswanderung“ zum Meer zurück.

So geht es bei den Wollhandkrabben-Generationen hin und her, wobei ihnen die erheblich verbesserte Wasserqualität in den Flüssen von Nutzen ist, weil sie zur Vermehrung der Flussmuscheln beigetragen hat, von denen die Wollhandkrabben zum Teil leben. Den Anglern fressen sie auch gern ihre Köder vom Haken ab oder sie plündern die Aalreusen der Fischer, die sie dabei zerstören. Andersherum fressen Aale aber auch gern Wollhandkrabben und Angler nutzen das Krabbenfleisch als Köder.

Ebenso mögen Möven und Tauchvögel Wollhandkrabben. Die kleinste aller Lummen nennt man sogar „Krabbentaucher“. Im Norden heißt er Eisvogel: „Er ist der beweglichste, munterste und gewandteste unter den Flügeltauchern,“ schrieb Alfred Brehm. Ähnlich äußerte sich der isländische Autor Gudmundur Andri Thorsson in seinem Roman „In den Wind geflüstert“ (2018) über den Krabbentaucher.

Den Anglern fressen sie auch gern ihre Köder vom Haken ab oder sie plündern die Aalreusen der Fischer, die sie dabei zerstören. Andersherum fressen Aale aber auch gern Wollhandkrabben und Angler nutzen das Krabbenfleisch als Köder

Weniger elegant dezimiert man die Wollhandkrabben in Norddeutschland: Wenn sie dort aus den Gräben und Tümpeln kommen, um in die Flüsse zu gelangen, werden sie zu Tausenden auf den Straßen platt gefahren. Und an der Elbe-Staustufe bei Geesthacht werden sie mit automatischen Fanganlagen zu Millionen eingesammelt – bis zu 125 Tonnen pro Jahr – und zu Viehfutter, Dünger oder Substrat für Biogasanlagen verarbeitet.

Im Stedinger Land gibt es jedoch inzwischen einige Fischer, die sie fangen und nach Asien exportieren, wo ihre Bestände rückläufig sind, weil die Flüsse immer mehr industriell verdreckt werden. Die Wollhandkrabben sind dort jedoch derart beliebt – eine Delikatesse, dass man sie,die in China „Schanghai-Krabben“ genannt werden, in Aquakulturen züchtet: „Der Handelswert einer einzelnen Krabbe kann 40 Euro erreichen“, berichtet der Weser-Kurier. „Auch in Deutschland finden sich Restaurants, die die Tiere insbesondere zu deren Wanderzeit anbieten. Einige Stedinger Angler hätten das in den vergangenen Jahren wahrgenommen, weiß ein Fischereivereinsmitglied. Sie hätten Wollhandkrabben gefangen und an einen regionalen Fischhändler verkauft. Schließlich werden sie lebend nach China versandt. Aber das Fangen sei eine hässliche Arbeit, meint einer der Fischer, „die Tiere haben lange scharfe Scheren“.

Auch das Essen von Wollhandkrabben ist für uns gewöhnungsbedürftig. Der taz-Autor Johann Tischewski erwarb ein Kilo – rund 30 handgroße Tiere – von einem Fischer auf dem Kutter „Cux 25 Elvstint“ am Hamburger Fischmarktanleger, der die Tiere direkt von Bord verkauft. Als Tischewski zu Hause das Netz öffnete, entflohen sie ihm „in alle Richtungen“. Er fing sie ein und warf sie lebend in kochendes Wasser, nach einer Weile wurden sie rot, einige verloren ihre behaarten Beine und die Scherenhände. „Als Beilage mache ich mir Reis und Chinagemüse. Mit einem Messer breche ich die erste Krabbe auf. Mir kommt eine unangenehm riechende, schmierig gelbe Flüssigkeit entgegen. Ich pule das glitschige Fleisch aus dem Panzer und probiere es. Aber ich bekomme es nicht runter. Auch mit Reis und extra viel Sojasoße nicht.“ Am Ende landen alle Wollhandkrabben in seiner Biomülltonne.

Dass man sie lebend kocht, hat in den USA bereits die Tierschützer auf den Plan gerufen, wobei sie sich jedoch erst einmal auf den Großkrebs Hummer konzentriert haben, denn in Rockland im Bundesstaat Maine findet alljährlich die weltgrößte „Hummerparty“ statt, auf der die Tiere zu Tausenden lebend in riesige Kochtöpfe geworfen werden. Das rohe Massenvergnügen in der „Hummerhauptstadt“ wurde vom Schriftsteller David Foster Wallace kritisiert – und das ausgerechnet in einer amerikanischen Gourmet-Zeitschrift. Auf Deutsch erschien sein Essay „Am Beispiel des Hummers“ 2009.

Argumentationshilfe hatten ihm neben den Tierethikern einige Krebsforscher geliefert, indem sie feststellten, dass Hummer „Nozizeptoren“ besitzen und demzufolge Schmerzen empfinden. Auch die hiesigen Tierschützer fordern deswegen eine Gesetzesänderung: „Die derzeit gültige Verordnung über das Schlachten von Hummern stammt aus dem Jahr 1936, als über die Leidensfähigkeit der Krustentiere noch wenig bekannt war.“

Die Krabben zählen ebenfalls zu den Krustentieren (eine Küchenbezeichnung), man nennt sie auch Kurzschwanzkrebse. Beide, Hummer wie Krabben, gehören zur Ordnung der Zehnfußkrebse, deren erstes Beinpaar zu „Knackscheren“ umgebildet ist. Sie empfinden nicht nur Schmerzen, wenn sie in kochendes Wasser geworfen werden, sondern reagieren auch sensibel auf Stress, wie ich einmal unbeabsichtigt bei einem europäischen Flusskrebs (auch „Edelkrebs“ genannt) herausfand, den ich mir für eine Mark 50 in einem Fischgeschäft gekauft und in mein Kaltwasser-Aquarium gesetzt hatte.

Um ihn, den wir Fritz nannten, gruppierte sich fortan das Geschehen im Becken. Er hockte in einer nach vorn und hinten offenen Steinhöhle in der Mitte des Aquariums und wurde von uns mit Leberwurst gefüttert, die er in kleinen Portionen bekam – zusammen mit einem Kieselstein, damit das Fleisch zu Boden sank. Er brauchte nur wenige Sekunden, um den „Braten“, auch wenn der 40 Zentimeter weg von ihm auf den Beckenboden gesunken war, zu finden. Wenn man mit einem Kescher im Aquarium rumfuchtelte, versteckten sich alle Fische hinter ihm, während er vorn tapfer versuchte, das Gerät mit seinen Scheren abzuwehren. Entgegen der Meinung vieler Aquarianer fraß er nicht einmal die kleinsten Fische, sondern beschützte sie eher.

Ich fand, dass er, anders als die Fische, Muscheln und Schnecken im Becken, so etwas wie eine Persönlichkeit war. Als ich einmal (und nie wieder) einem Nachbarn zuliebe in unserem Dorfsee angelte, fing ich einen Hecht. Statt ihn zu schlachten, setzte ich ihn ins Aquarium, wo er nach und nach alle Fische auffraß, und das jedes Mal so blitzschnell, dass ich nicht mit den Augen folgen konnte. Der Flusskrebs war unter seinem Stein zwar vor ihm sicher, aber die Bedrohung durch diesen großen Raubfisch „stresste“ ihn derart, dass er starb.

Foto: imago/ZUMA Press

Charles Darwin hätte dieses ganze Fressen und Gefressenwerden unter Wasser glatt als eine prima Bestätigung seiner „Übertragung der schlechten Angewohnheiten der englischen Bourgeoisie auf die Natur“ (Marx) empfunden. Aber das Leben besteht nicht nur aus Fressen, Ficken und Fernsehen (Unterwasserfilme). Das gilt auch für die Chinesische Wollhandkrabbe, die im Internet als ein „interessanter Pflegling im Aquarium“ bezeichnet wird: „Sie benötigt für eine artgerechte Pflege ein geräumiges Aquaterrarium mit einer Abdeckung, das ihr ausreichend Verstecke unter oder zwischen Steinaufbauten bietet. Bietet das Aquaterrarium nicht ausreichend Platz oder Versteckmöglichkeiten, sind die Tiere untereinander unverträglich. Zum Wohlbefinden der Tiere trägt es außerdem bei, wenn ein Teelöffel Meersalz auf 100 Liter Wasser beigegeben wird. Gefüttert werden Chinesische Wollhandkrabben mit Fischfleisch sowie Insektenlarven und kleinen Krebstieren. Sie sind auch an hochwertiges Flockenfutter gewöhnbar.“

In Delmenhorst lebt ein Aquaterrarianer, der eine Wollhandkrabbe in seinem Becken hält, die „Wolli“ heißt. Er hat an der Bremer Universität ein paar Semester Biologie studiert und dabei an einem „Crustacea-Praktikum“ teilgenommen, bei dem es darum ging, die Krebstiere kennen zu lernen im Hinblick auf ihre Extremitäten, die sich im Verlauf der Evolution zu den unterschiedlichsten Werkzeugen entwickelt haben, wobei es konkret um das Präparieren der Extremitäten von Wollhandkrabben ging, die aus Beifängen des Bremer Amtsfischers stammten – zwar nicht gekocht, aber auch tot. Zum Praktikum gehörte eine „Meeresbiologische Exkursion“. Auf dieser fing er eine lebende Wollhandkrabbe, die er mit nach Hause nahm und in sein Aquaterrarium tat.

Ihr Verhalten unterschied sich nicht wesentlich von meinem Flusskrebs, außer das Wolli wie alle Krabben seitwärts läuft und dass er es geschafft hat, ihr das Futter mit der Hand zu reichen, anfänglich aus Vorsicht mit einer großen Pinzette. Er hält sie schon ein paar Jahre und meint, dass sie wohl langsam geschlechtsreif wird und sich ihr „Wandertrieb“ in Richtung Meer bemerkbar macht, indem sich ihre Ausbruchsversuche aus dem Becken häufen: „Sie wird immer nervöser.“

Das unterscheidet sie von meinem Flusskrebs, der einige Jahre lang relativ gelassen in seiner Steinhöhle hockte. Wollis Besitzer weiß, dass einige Krabbenfischer bereits festgestellt haben, dass ihre Fänge langsam immer geringer ausfallen. Die Ursache ist noch unklar: Werden zu viele gefangen oder werden die Tiere immer schlauer? Er würde gern irgendwann ein Buch über die Wollhandkrabbe schreiben: „Anders als in China gibt es hierzulande so gut wie keine Verhaltensforschung über sie.“ Und das Gerede über „invasive Arten“ und ihre „Bekämpfung“ findet er typisch deutsch und doof.

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