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StadtgesprächErich Rathfelder aus SarajevoDie Linken erinnern an die Verfassung von 1943

Das alte Rathaus glänzt im Licht der Scheinwerfer. Der Wind peitscht durch die Straßen. Die Antifaschisten und die Repräsentanten der linken Parteien feiern die Staatsgründung Bosnien und Herzegowinas im November 1943. Sie erinnern an die Verfassung von damals, die vom „Antifaschistischen Landesrat der Volksbefreiung von Bosnien und Herzegowina ZAVNOBiH“ im Zweiten Weltkrieg erarbeitet worden war. „Umgeben von deutschen und italienischen Truppen, von heimischen Feinden, den Truppen der rechtsradikalen Kroaten und Serben, den Tschetniks und Ustaschen, mitten im Zweiten Weltkrieg, haben die so was zustande gebracht, eine echte Verfassung, die viel besser ist als die heutige“, sagt Mustafa Kapicic. Als 15-Jähriger hat er für die Partisanen als Kurier gearbeitet. Heute ist er fast 90 Jahre alt.

Dass nun eine große Feier für die Antifaschisten und die Partisanen im Rathaus stattfinden kann, hat mit dem Wahlsieg der linken Parteien in Sarajevo zu tun. Das jedenfalls denkt Aida, Lehrerin am städtischen Gymnasium. „Seit am 6. Oktober die linksliberale, nichtnationalistische Partei Naša Stranka im Stadtzentrum die stärkste Partei geworden ist und mit Sozialdemokraten und der linken Patriotischen Front eine Koalition bilden kann, hat sich schon etwas verändert“, sagt sie. Sogar oben auf dem Berg Vraca sei vor den Feiern das alte Partisanendenkmal wieder gereinigt und begehbar gemacht worden.

Von hier oben, wo einstmals Jozip Broz, also Jugoslawiens Staatschef Tito, stand, bei den wieder freigelegten Gedenktafeln von über 10.000 Opfern, scheint die Stadt zum Greifen nah. Mit bloßem Auge kann man die Menschen auf den Straßen sehen. Während der Belagerung und des Krieges der 90er Jahre schossen die serbischen Truppen auf alles, was sich unten bewegte.

Jovan Divjak, Mitte 70, ist zwar kein Partisan gewesen, dafür ist er zu jung. Aber als General und als Serbe war er Vizekommandeur der bosnischen Truppen, die die Stadt gegen die serbischen Nationalisten verteidigten. Es gab Serben und Kroaten unter den Verteidigern der Stadt, nicht nur Muslime. „Wie perfide, von diesem Denkmal aus die Stadt zu beschießen. Die Wiederkehr des Faschismus in Jugoslawien 1991 und die Zerstörung der multinationalen Gesellschaft ist die größte Tragödie nicht nur für Bosnien und Herzegowina, auch für Europa, wie man jetzt sieht“, sagt Divjak und blickt über die inzwischen wieder aufgebaute Stadt.

Da unten liegt „Walter“, ein Synonym für den Widerstand gegen den Faschismus im Zweiten Weltkrieg. Die heutigen Nationalparteien der Serben, Kroaten und der Muslime hassen Tito und die Partisanen, die nur mit der Parole „Brüderlichkeit und Einheit“ als einzige Kraft in Europa den Faschismus ohne Hilfe von außen besiegt hatten. „Umso schlimmer war die Rache im letzten Krieg der 90er Jahre“, sagt der General. Dass jetzt die nichtnationalistischen Kräfte in der Stadt und dem Kanton Sarajevo die Regierung bilden können, hat den Antifaschisten wieder etwas Auftrieb gegeben. „Jetzt müssten wenigstens hier die Maßnahmen der religiös-nationalen SDA-Partei, wie die Gebetszimmer in den Behörden und die nationalistischen Curricula in den Schulen, rückgängig gemacht werden“, fordert Lehrerin Aida. Die Erinnerung an die Verfassung von 1943 ist für viele ein erster Schritt für die Linke, aus ihrer Agonie herauszutreten.

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