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Kommentar Eltern und ÄlterwerdenEine andere Mutter, ein anderer Vater

Ambros Waibel
Kommentar von Ambros Waibel

Was passiert mit Eltern, die immer älter werden? Sie werden zu Menschen, die man weniger kennt – und damit irgendwie zu weniger Eltern.

Im 20. Jahrhundert galt ein Menschenleben mit 70 Jahren als erfüllt Foto: Unsplash/Philippe Leone

W arum ist das Weltall nachts dunkel, wo es doch von Milliarden von Sonnen erleuchtet sein müsste? Vor einer Woche, auf dem Weg zum 80. Geburtstag meiner Mutter, stieß ich im Zug, an meiner Rede feilend, auf diese Frage. Was wir, klärte mich der Philosoph Giorgio Agamben auf, als Dunkelheit des Firmaments wahrnehmen, ist nur Licht, das uns nicht erreicht; strahlende Helligkeit aus fernen Galaxien, die sich aber schneller entfernen, als die Strahlen, die von ihnen ausgesandt werden, uns erreichen können.

Wir schauen ins Dunkel, weil das, was uns erleuchten könnte, immer ferner rückt.

Am Abend, als ich den Festsaal betrat, ging mir die Sache noch im Kopf herum. Dann wurde ich abgelenkt. Denn außer den verbliebenen Familienmitgliedern war unter den Gästen kaum jemand, den ich besser als vom Sehen gekannt hätte. War ich hier richtig?

Ich hatte schon mitbekommen, dass gerade noch in der Woche vor dem Geburtstag meiner Mutter zwei liebe Freunde von ihr gestorben waren; dass die Zeit beständig ihre Opfer gefordert hatte. Wie radikal allerdings sich das Leben meiner Eltern in den letzten fünfzehn Jahren verändert hatte, verstand ich erst jetzt, hier in einem Innenstadtlokal in der Tür stehend.

Ein großes Fest vor 15 Jahren

Vor fünfzehn Jahren hatte mein Vater seinen 70. Geburtstag gefeiert: Ein großes Fest, das nach Wanderjahren alle zusammenführte: die in Pension gegangenen Freunde, Kollegen und Bekannten meiner Eltern – und uns Kinder, die wir nun selbst schon teilweise mit unseren Partnern und Kleinkindern angereist waren. Es war ein Fest zum Ende des Berufslebens der Älteren und eines, das die Kindheit von uns Jüngeren endgültig abschloss.

Alle, die sich vor fünfzehn Jahren versammelt hatten, taten dies in dem Bewusstsein, dass hier etwas zu seinem Ende gekommen war. Gemeinsam feierten sie den Jubilar, mit dem gemeinsam sie gearbeitet und gelebt hatten; und gemeinsam versicherten wir einander, dass nun wir Jüngere dran waren, die Rollen der Älteren einzunehmen, in unseren jeweiligen Berufen, aber eben auch schon als Mütter und Väter. Und gemeinsam gedachten wir der Verstorbenen, der Großmütter und Großväter, die damals auch schon ein Jahrzehnt lang tot waren.

In diesen Jahren war sie der zentrale Punkt, um den ich kreiste, mit meinen Freuden, meinen Erfolgen, meinen Sorgen, meinen Ängsten.

Im Nachhinein scheint mir, dass dieses Fest vor fünfzehn Jahren eigentlich als das letzte gedacht war, eines, wie es seit Jahrhunderten gefeiert worden ist. Denn noch bis ins 20. Jahrhundert hinein galt ein menschliches Leben mit 70 als erfüllt und als im Wesentlichen abgeschlossen.

Andere Zeitgenossen

Und jetzt, 2018, was war jetzt? Etwas jedenfalls völlig anderes. Niemand der hier Anwesenden hatte mich oder meine Geschwister als Kind erlebt; niemand kannte die Wohnung, in der wir aufgewachsen waren, all unsere familiären Konflikte und Freuden gehörten hier nicht her, weil niemand sie teilen konnte.

Das war verwirrend und bedrückend; aber es war auch faszinierend neu: Es waren sozusagen nun eine andere Mutter und ein anderer Vater, die hier feierten, ­Zeitgenossen, die aber mit meiner Mutter und meinem Vater nur noch wenig zu tun hatten. Wer hier versammelt war, um meine Mutter zu ehren, die neuen Freunde, Nachbarn vor allem, so sagte es einer meiner Brüder in seiner Rede sehr treffend, sehr radikal, die waren nun „Familie“.

Wer die Statistiken zurate zieht, um dieses Phänomen ein wenig vom Persönlichen wegzuschieben, der kann festhalten: Zwar sind Mütter heute bei der Geburt des ersten Kindes fünf Jahre älter als in den 1960er Jahren, zu deren Ende ich geboren wurde. Die Phase, in der Frauen Kinder ­bekommen, ist aber relativ unverändert geblieben.

Acht Jahre bewusste Lebenszeit

Das erste Kind kommt zwar später, aber die anderen folgen schneller nach. Die Lebenserwartung hat sich allerdings deutlich verlängert, meine Mutter hat statistisch gute Chancen, noch acht Jahre zu leben. Dann hätten wir – ich bin gerade 50 geworden – 58 Jahre zusammen verbracht. In meinem Geburtsjahr 1968 betrug die Lebens­erwartung von Frauen in Westdeutschland 73 Jahre.

Wochenendkasten 24./25. 11 2018

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

58 Jahre, da kommen wir nun, Sie erinnern sich, auf das Licht zurück, dessen Quelle sich so rasend schnell von uns entfernt. Was meine Mutter und mich – von meiner Warte aus gesehen, an meine Geburt erinnere ich mich glücklicherweise nicht – am intensivsten verbindet, das sind vielleicht acht Jahre bewusste Lebenszeit, von meinem fünften bis zu meinem dreizehnten Lebensjahr.

In diesen Jahren war sie der zentrale Punkt, um den ich kreiste, mit meinen Freuden, meinen Erfolgen, meinen Sorgen, meinen Ängsten. Danach werden die innigen Momente weniger; in den letzten Jahren bekommen sie noch dazu eine Umkehrung, weil ich es plötzlich bin, der sich Sorgen um sie macht.

Wir müssen uns erinnern

Ich muss mich entschuldigen: Wer in meinem Alter die dritte Freundin – oder den ersten Freund – des Vaters kennenlernt, wer seine Mutter nur einmal im Jahr sieht, wenn sie bei ihrer never ­ending Tour um den Weltball kurz Station macht – wer also in weniger traditionellen Strukturen aufgewachsen ist als ich: Für die und für den sind diese Überlegungen ein alter Hut. Dass nämlich die Eltern immer älter und dabei immer weniger Eltern werden, weil die menschliche Fähigkeit, intensive Erinnerungen als gegenwärtig vor sich hin zu projizieren, beschränkt ist.

Und doch bin ich mir sicher, dass auch meine Kinder die natürlich völlig unberechtigte Erwartung an mich haben, dass ich ihr Vater bleibe, auch jenseits der 70, falls ich ein solches Alter erreichen sollte. Und mir geht es jedenfalls derzeit nicht anders. Ich fühle mich nicht so richtig wohl mit der Idee, dass mein Leben von einer harmonischen Dreiteilung in einen Mehrteiler mit zweiter und dritter Staffel übergeht.

Gibt es ein Recht darauf, nicht noch mal und immer wieder von vorne anzufangen? Ich weiß es nicht. Was ich weiß, ist, dass die Erinnerungen verblassen und dass wir um sie kämpfen ­müssen, weil die emotionale Intensität der Gegenwart mit unseren Eltern von ihnen abhängt. Weil sie nur unsere Eltern sind und wir ihre Kinder, wenn wir uns erinnern. Weil wir sonst Fremde werden. Das ungefähr habe ich dann beim 80. Ge­burtstag meiner Mutter gesagt. Von der neuen Fa­milie hat mich niemand auf die Rede angesprochen.

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Ambros Waibel
taz2-Redakteur
Geboren 1968 in München, seit 2008 Redakteur der taz. Er arbeitet im Ressort taz2: Gesellschaft&Medien und schreibt insbesondere über Italien, Bayern, Antike, Organisierte Kriminalität und Schöne Literatur.
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4 Kommentare

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  • Vielen Dank für den Artikel!



    Bin gerade nach ein paar mehr Jahren Leben mit den Eltern (als die beschriebenen 50) an einem Punkt, wo ich mir die Frage stellte, wo die Eltern geblieben sind, bei denen ich aufgewachsen bin.

    Das waren einige schön formulierte Gedanken.

  • Ja wie*¿* - “Eine andere Mutter, ein anderer Vater



    Was passiert mit Eltern, die immer älter werden? Sie werden zu Menschen, die man weniger kennt – und damit irgendwie zu weniger Eltern.“

    Sach mal so. Dess & Dess -

    “…Und doch bin ich mir sicher, dass auch meine Kinder die natürlich völlig unberechtigte Erwartung an mich haben, dass ich ihr Vater bleibe, auch jenseits der 70, falls ich ein solches Alter erreichen sollte. Und mir geht es jedenfalls derzeit nicht anders.…“

    Sorry. Ist mir aan Schmarrn. Weder ist mir das mit meinen Eltern - 74/84 - so gegangen.



    Die mir bis heute noch mehr als präsent sind & Keine Ikonisierung. Never ever.



    & Däh!



    Noch geht es mir mit 73*+ mit meinen Kindern/Enkeln (bisher) so.



    & Ganz sicher: vice versa. Liggers: Jüngster grad geratenes Studium begonnen.

    unterm—-vllt - Spekulatius:



    Weil meine Eltern schon über 40 als ich geboren.



    Lebenserfahren - gelassen kluge Leute.



    &



    Die Familienälteste *1876 - locker über 100 wurde.



    Helle bis zum friedlichen Entschlafen. Alte - as usual.



    &



    Selbst mit 20+ aus dem Haus.



    Sie aber lebten sodann ihr Leben gelassen zu Ende.

    kurz - Ihrs aber - mit Verlaub - mir ein merkwürdiges Konstrukt.



    Leben - In denen scheint’s Nähe & Distanz undurchsichtig geblieben sind.



    &



    Altwerden - nicht wirklich als Teil des Lebens begriffen&gelebt ist.

    So in etwa.

    • 8G
      85198 (Profil gelöscht)
      @Lowandorder:

      Naja, der Ambos ist auch nicht mehr das Kind, das er mal war. Er ward älter - und damit irgendwie zu weniger Ambros?!

      • @85198 (Profil gelöscht):

        Ich - ein anderer.

        Einige mer uns darauf - hm*¿*

        unterm—-



        entre nous: - hab da so meine Idee Richtung ~~ symbiotischer Eltern/Kind



        Beziehung vs Erwartungsenttäuschung

        Sojet halt.