Philosoph Giorgio Agamben wird 70: Der Denker des Undenkbaren
Der viel diskutierte Philosoph Giorgio Agamben feiert am Samstag seinen 70. Geburtstag. In seinem Werk versucht er, sich Auschwitz als Philosoph, nicht als Historiker zu stellen.
Giorgio Agamben, der am Geburtstag Immanuel Kants, am 22. April, 70 Jahre alt wird, ist der erste Philosoph, der das Undenkbare – das, was in Auschwitz geschah – in der Philosophie denkt. Bevor Agamben 1995 sein epochales und weltweit rezipiertes Hauptwerk „Homo sacer“ veröffentlichte, galt Auschwitz in der Philosophie als Angelegenheit der Geschichtswissenschaft. Das Undenkbare des Horrors zumindest zu beschreiben und einzuordnen, sollte zuerst der Nüchternheit einer materialistischen Historizität überlassen werden.
Agamben sah in dem, wofür Auschwitz steht, nämlich für die elaborierteste Form des nationalsozialistischen Konzentrationslagers und der nationalsozialistischen Menschenvernichtung, die Philosophie direkt betroffen. Auschwitz ist ganz konkret der Tod des Subjekts. Dagegen gibt es kein Beruhigungsmittel, und dagegen hilft keine Therapie. Damit ist der abendländischen Philosophie, die sich seit Descartes um drei Kernbegriffe – Sein, Wahrheit und Subjekt – formiert, eines ihrer Elemente abhandengekommen, das genauso wenig wiederkommen kann wie jeder andere Tote.
Man wird Auschwitz denkend nur fassen können, wenn man diesem Tod ins Auge sieht. Daraus folgt für Agamben nichts weniger, als dass es kein „Lernen aus Auschwitz“ gibt. Das Leiden und der Tod im Lager hatten keinen Sinn, und es lässt sich aus dem Leben im Lager auch keine moralische Lehre im Sinne eines Überlebens unter Extrembedingungen ziehen. Darüber, was einer, der im Lager einsitzt, für ein Mensch ist, gibt das Leben im Lager keine Auskunft.
So weit würden Agamben auch diejenigen zustimmen, die, wenn sie Auschwitz hören, sofort „Nie wieder!“ brüllen und ansonsten als Professoren oder Journalisten sich ganz toll in den Anzügen ihrer Subjektivität fühlen. Für Agamben hat Auschwitz aber eine andere Dimension als die eines abgeschlossenen Ereignisses, das in seiner Einzigartigkeit historisch eingeschlossen werden kann.
Traditionslinien der Lager
Ohne die historische Singularität der Konzentrationslager der Nazis zu bestreiten, sieht er die Lager in rechtlichen, philosophischen und wissenschaftlichen Traditionslinien sich entwickeln, die weder ohne Anfang noch an ihr Ende gekommen sind. In „Was von Auschwitz bleibt“, dem dritten Band seiner auf vier Werkteile angelegten „Homo sacer“-Reihe, formuliert Agamben seinen Kernsatz mit dem Auschwitz-Überlebenden Primo Levi so: „Man kann nicht wollen, dass Auschwitz auf ewig wiederkehrt, weil es sich schon immer wiederholt.“
„Der Mensch ohne Inhalt“. Suhrkamp, Frankfurt 2012, 172 S., 14 Euro: Agambens erstes Buch (1970). In einem radikalen Durchgang durch die klassische Ästhetik von Platon bis Hegel sieht er darin den Künstler in der Moderne zum Menschen ohne Inhalt werden.
„Höchste Armut. Ordensregeln und Lebensform“. S. Fischer Verlag, Frankfurt 2012, 208 S., 19,99 Euro: Im vierten Band der „Homo sacer“-Reihe versucht Agamben anhand des abendländischen Mönchtums „das Leben als etwas zu denken, das einem nicht als Besitz, sondern zum Gebrauch gegeben ist“.
„Kirche und Reich“. Merve Verlag, Berlin 2012, 32 S., 8 Euro: Der Text gibt einen Vortrag wieder, den Agamben 2009 in Paris zur Frage, ob Jesus ein Messias Israels sei, gehalten hat.
In dem Satz steckt ein hochkompliziertes Geschichtsbild, das immer dann, wenn man es versucht zu konkretisieren, ungenau wird. Wenn Agamben etwa in den Gefangenen von Guantánamo oder in den im Meer versinkenden Boat-People der internationalen Fluchtbewegungen eine Wiederkehr der rechtlos auf das nackte Leben zurückgeworfenen KZ-Insassen sieht, dann landet er zwangsläufig im Elend des Vergleichs von unvergleichlichen Erfahrungen. Das Gleiche gilt für seine im ersten Band der „Homo sacer“-Bücher aufgestellten These von der „innersten Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus“.
Vom Nichtmenschlichen
Natürlich will Agamben mit der These nicht den italienischen Parlamentarismus der Gegenwart mit der Sowjetunion Stalins auf eine Stufe stellen, wer aber nicht richtig liest, kann zu Recht zu diesem Schluss kommen, was Agambens Kritiker auch regelmäßig tun. Falsch sind Agambens Thesen von Auschwitz und der Verbindung von Totalitarismus und Demokratie trotzdem nicht. Agamben findet nämlich von der aristotelischen Antike bis heute eine durchgängige Struktur, die er in Recht, Politik, Gesellschaft und Staat ununterbrochen anwesend sieht.
Wer sehr viel vom Menschen redet, was zwangsläufig jeder Humanismus tut, spricht damit auch immer vom Nichtmenschlichen. Andauernd ist der Humanismus damit beschäftigt, Grenzen zu ziehen, in der Wissenschaft wie in der Politik. Staat und Recht leben nur von der Gewalt und Herrschaft über Leben und Tod, über die Bestimmung, welcher Mensch nun noch dazugehört und welcher nicht. Agamben will einerseits zeigen, wie diese Trennungsmaschinen funktionieren, woher sie kommen und wie sie wirken, und andererseits einen Ausweg daraus zumindest denkbar machen.
Dabei hat sein Denken zwei große Verdienste: Zum einen konnte er in der „Homo sacer“-Reihe zeigen, dass das nackte, rein biologische Leben nicht der Ausgangspunkt der Kulturgeschichte ist, sondern dauernder Bestandteil jeder Zivilisation und Regierungsform. Damit führte er zuvor ausgeschlossene Themen wie Leben und Tod oder Körper und Medizin wieder in die politische Diskussion ein. Zum anderen hat er in wunderbaren Büchern wie „Die Sprache und der Tod“ und „Das Offene. Der Mensch und das Tier“ gezeigt, wie ein subjektloses Denken funktionieren kann, ohne sich der Sprache zu berauben.
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