: Mit gespannten Muskeln
Nachdem russische Streitkräfte 24 ukrainische Marinesoldaten festgesetzt haben, will Präsident Poroschenko in Kiew das Kriegsrecht verhängen
Aus Kiew Bernhard Clasen
Die Rechtsextremen in der Ukraine versuchen die aktuell angespannte Lage im Land für ihre Anliegen zu nutzen. Wenige Stunden vor der entscheidenden Sitzung, in der das ukrainischen Parlament über die Verhängung des Kriegsrechts entscheiden sollte, hatten sich nationalistische Demonstranten am zentralen Platz, dem Maidan, in der ukrainischen Hauptstadt Kiew versammelt, um für eine mögliche Verhängung des Kriegsrechts zu demonstrieren.
Tausend Demonstranten, fast alle Jugendliche, waren teilweise vermummt auf dem Maidan erschienen. Auf alle Versuche von Journalisten, mit ihnen zu sprechen, reagierten sie ablehnend. In fast militärischem Schritt marschierten sie kurz nach 11 Uhr über die Straße der Heiligen Hundert, auf der traditionell der Opfer des Maidan von 2013 und 2014 gedacht wird, weiter zum Präsidentenpalast. Der war von der ukrainischen Polizei so weit abgeriegelt, dass sogar Wohnhäuser davon betroffen waren.
„Ich habe heute meine Freundin zum Kaffee eingeladen“, erklärte eine ältere Dame. „Und sie durfte nicht reinkommen, weil sie nicht nachweisen konnte, dass sie hier lebt.“ Die Nationalisten des Nationalen Korps formierten sich, riefen am Ende aller Reden in Sprechchören „Ruhm der Ukraine“, „Ruhm der Nation“, „Die Ukraine über alles“, „Tod den Feinden“. Bereits am Vorabend hatten Unbekannte in der Nähe der russischen Botschaft in Kiew einen Wagen der Botschaft in Brand gesteckt. In der Folge verstärkte die ukrainische Polizei ihre Sicherheitskräfte. Am gestrigen Montag blieb es dann weitgehend ruhig. Ebenfalls am Vorabend hatten 200 Nationalisten in Odessa vor dem russischen Konsulat demonstriert, es mit brennenden Gegenständen beworfen. Ähnliches war auch in Charkiw geschehen.
Es gibt aber auch Zweifel an einer Verhängung des Kriegsrechts – selbst bei den Nationalisten. „Poroschenko will sich doch nur im März nicht der Wiederwahl stellen“, grummelt ein Passant, der mit den Nationalisten marschiert. Damit macht er sich ironischerweise die Erzählung der russischen Regierung zu eigen, die behauptet, Poroschenko wolle das Kriegsrecht nur verhängen, um die Wahlen entweder zu verschieben, oder um sich zumindest einen Vorteil zu verschaffen. In den letzten Umfragen sagten über 50 Prozent der Befragten, sie würden unter keinen Umständen für Poroschenko stimmen. Tatsächlich fordern die Nationalisten vor dem Präsidentenpalast zwar die Verhängung des Kriegsrechts. Jedoch nur für 30 Tage, und nicht 60 Tage, wie es Poroschenko verlangt. Man wolle nicht, dass er das Kriegsrecht nutze, um der Wahl am 31. März zu entgehen, erklärte der Chef des Nationalen Korps, der Rechtsradikale Andreij Bileztkij.
Eine Beschränkung des Kriegsrechts auf 30 Tage verlangte auch der Abgeordnete Mustafa Nayyem auf Twitter. Nayyem, der zu den sogenannten Eurooptimisten zählt, sitzt für die Partei des Präsidenten, Block Poroschenko, im Parlament. Er forderte auch, es dürften keine bürgerlichen Freiheiten beschnitten werden. Der Politologe Alexej Kuschtsch fürchtet laut dem Internet-Portal kp.ua Engpässe bei der Energieversorgung. Durch das Kriegsrecht könnten die Lieferungen von atomarem Brennstoff, Benzin, Kohle und Öl aus Russland eingeschränkt oder ganz eingestellt werden.
In einem auf der Webseite des Präsidenten veröffentlichten Dekret ist aufgeführt, wie er sich die Ausgestaltung des Kriegsrechts konkret vorstellt. So soll der Generalstab „Mittel ergreifen, um eine Teilmobilmachung zu ermöglichen und Übungen der Militärreserve abhalten“. In dem Dekret steht nichts Konkretes über die Einschränkung bürgerlicher Rechte und auch nichts über die Verschiebung der Wahlen. Es gibt allerdings ganz am Ende des Dekrets einen geheimen zwölften Punkt.
Unterdessen hat die Kiewer Vertretung des Internationalen Währungsfonds zu verstehen gegeben, dass man die Ukraine auch bei einer Verhängung des Kriegsrechts unterstützen werde. Bis Redaktionsschluss sind sich die Parlamentsabgeordneten in Kiew uneins über die Einführung des Kriegsrechts und ob es wirklich 60 Tage dauern soll.
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