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portraitRichter auf verlorenem Posten

Es war ein Abgang, mit dem er in Erinnerung bleiben wird. Mit seiner Gegenstimme zum gestrigen Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den vorgezogenen Neuwahlen stand der scheidende Richter Hans-Joachim Jentsch alleine da – zumindest im Kollegenkreis. Mit seinem Statement schlug sich gestern ausgerechnet der CDU-Mann auf die Seite von Jelena Hoffmann (SPD) und Werner Schulz (Grüne).

„Das Grundgesetz kennt nur ein konstruktives, kein konstruiertes Misstrauensvotum“, kritisierte Jentsch Kanzler Schröder und die Entscheidung der eigenen Kollegen. Von SPD-internen Debatten über die Agenda 2010 will Jentsch nichts wissen. „Der inhaltliche Dissens gehört zum Wesen innerparteilicher Demokratie“ und sei folglich nichts Außergewöhnliches, schon gar kein Grund, Neuwahlen zu fordern.

Der 67-jährige Richter gilt nicht von ungefähr als politischster aller derzeitigen Verfassungsrichter. Bereits 1960 trat er der Union bei. Nach seinem Studium der Rechts- und Staatswissenschaften in Marburg und der Hochzeit mit seiner Frau Doris 1965 spielte der Rechtsanwalt und Notar in den frühen 70er-Jahren eine große Rolle in der hessischen CDU. 1976 zog er in den Bundestag ein. Nach Stationen als Wiesbadener Oberbürgermeister und Landtagsabgeordneter in Hessen, wo er als blasser Technokrat galt, wurde der gebürtige Brandenburger im November 1990 Justizminister der thüringischen Koalition von CDU und FDP. Es war eine Zeit, in der er sich dem Auf- und Umbau der Justizstrukturen in Thüringen widmete.

Seit er 1996 von der CDU als Verfassungsrichter nominiert wurde, machte er Schlagzeilen in zwei großen politisch brisanten Verfahren. In den Skandal um die schwarzen Kassen war ausgerechnet der Mann verwickelt, der seit Mai 1999 in Jentschs Wiesbadener Kanzlei arbeitete – Manfred Kanther. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschied damals überraschend, dass Jentsch nicht befangen sei und weiterhin als Berichterstatter am Verfahren teilnehmen könne. Erst 2003 stellte Jentsch, der meistens still im Hintergrund arbeitete, dann doch einen Befangenheitsantrag gegen sich selbst, so dass er nicht über seine hessischen Parteikollegen urteilen musste. Federführend war Jentsch im Verbotsverfahren gegen die rechtsextreme NPD, das 2003 eingestellt wurde. Trotz der V-Mann-Affäre sprach sich Jentsch immer dafür aus, das Verfahren weiterzuführen.

Zwei Tage nach der ungeliebten vorgezogenen Bundestagswahl wird der Mann mit der Vorliebe für die Salzburger Festspiele seinen 68. Geburtstag feiern und in den Ruhestand gehen. SARAH MERSCH

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