: Kohls Heldenmythos verblasst
Im Wahlkampf um die Stimmen der Russlanddeutschen zehrt die CDU immer noch von der Politik von Exkanzler Kohl. Doch der Zuspruch für die Union schwindet. Davon dürfte die Linkspartei profitieren
VON MARINA MAI
„Natürlich gehe ich wählen.“ Katarina F. ist empört, dass man etwas für sie so Selbstverständliches fragen kann. Die 68-jährige Russlanddeutsche spricht den alten schwäbischen Dialekt: „Ich lebe seit elf Jahren in der Heimat. Und ich bin immer wählen gegangen. Wir müssen doch dankbar sein.“ Dankbar ist die Rentnerin vor allem Helmut Kohl und seiner CDU. Denn der Exkanzler habe sie endlich „in die Heimat“ geholt.
Ihre Heimat ist Marzahn-Hellersdorf, der Bezirk, in dem rund ein Fünftel der über 100.000 Berliner Russlanddeutschen leben. Hier kennt sie die Nachbarn und ihre Kirchengemeinde. Hier schätzt sie das viele Grün, die abgeschiedene Lage und die günstigen Mietpreise. Und hier liegt ihr Mann auf dem Friedhof begraben. Auch Katarina F.s Nachbarin Olga M. (41) wird am 18. September wählen gehen. Wen, hat sie noch nicht entschieden. Sicher ist nur: „Auf keinen Fall wähle ich SPD. Die hatte so viel Zeit, etwas gegen die Arbeitslosigkeit zu tun und hat nichts unternommen.“ Die arbeitslose Krankenschwester, deren Berufsabschluss in Deutschland nicht anerkannt ist, ist zum ersten Mal wahlberechtigt. Als ukrainische Ehefrau eines deutschstämmigen Mannes besitzt sie erst seit einem Jahr einen deutschen Pass.
Die Russlanddeutschen sind eine besondere Klientel in diesem Wahlkampf. Repräsentative Umfragen über ihr Wahlverhalten gibt es zwar nicht. Doch niemand bestreitet ernsthaft, dass es der CDU gelingen dürfte, die übergroße Mehrheit der Neuankömmlinge aus Russland, Kasachstan, der Ukraine und Moldawien an sich zu binden. Noch immer zehrt die Partei davon, dass es nach Ansicht der meisten Aussiedler Exkanzler Kohl und sein Aussiedlerbeauftragter Horst Waffenschmidt waren, die ihnen die Rückkehr nach Deutschland ermöglichten.
Doch langsam verliert dieses Argument an Bedeutung, und damit schwindet auch der Zuspruch für die Union. Und zwar in dem Maße, in dem den Russlanddeutschen nicht mehr die Zuwanderung wichtig ist, sondern die soziale Lage im Aufnahmeland.
Die CDU versucht ihre Pfründe zu verteidigen: Im Wahlkampf wirbt sie mit einem zweisprachigen Flyer „Wir bleiben an Ihrer Seite“. Darauf erinnert sie vor allem an ihre Position, Menschen mit deutscher Abstammung eine privilegierte Zuwanderung zu ermöglichen. Die Berliner Spitzenkandidatin der Union, Monika Grütters, wird zudem in Marzahn eine Extra-Wahlveranstaltung für Spätaussiedler durchführen – mit Übersetzung ins Russische. Damit ist ein Stück Realismus in die CDU eingezogen. Noch vor der letzten Bundestagswahl hatte sie eine Übersetzung ihrer Wahlkampfauftritte als überflüssig angesehen – schließlich, so die Argumentation damals, waren die Adressaten ja Deutsche.
Als echte Interessenvertreter der Berliner Russlanddeutschen versucht sich indes keine Partei zu profilieren. Zwar ist jedes sechste der rund 420 Mitglieder der Marzahn-Hellersdorfer CDU ein Aussiedler, sagt Bezirksvize Christian Gräss. Dennoch habe sich die Partei „kommunal zu wenig mit dieser Gruppe befasst. Unseren hohen Zuspruch verdanken wir der Bundespartei“, gesteht der 27-jährige Jungpolitiker. Ähnlich selbstkritisch gibt sich Wolfgang Brauer, der für die Linkspartei im Abgeordnetenhaus sitzt. „Die regionale PDS hat es bisher verschlafen, sich intensiver um Spätaussiedler zu kümmern.“ Mit viel Respekt sieht Brauer die Arbeit seiner Genossen in Brandenburg. Dort haben sie sich in mehreren Kleinstädten so etwas wie eine Stammwählerschaft unter Spätaussiedlern erarbeitet. In Bernau ist sogar eine Stadtverordnete eine Russlanddeutsche.
Dennoch: Auch in Berlin dürfte die Linkspartei nach der CDU am ehesten eine Chance haben, von den Spätaussiedlern überhaupt wahrgenommen zu werden. Im Wahlkampf verteilt sie eine Kurzfassung ihres Wahlprogrammes auf Russisch. Und mit grünen und liberalen Themen können Spätaussiedler kaum etwas anfangen. Parteien vom rechten Rand haben in den letzten Jahren zwar Russlanddeutsche auf ihren Listen kandidieren lassen, fanden damit aber wenig Zuspruch.
Der Grund, dass die SPD kaum Chancen hat, in dieser Wählerklientel zu punkten, liegt ebenso wie die Beliebtheit der Union vor allem in der Vergangenheit begründet – genauer: Es liegt an Äußerungen ihres ehemaligen Spitzenpolitikers Oskar Lafontaine. Lafontaine hatte 1996 als erster deutscher Politiker mit drastischen Worten eine Begrenzung der Zuwanderung von Russlanddeutschen mit schlechten Deutschkenntnissen gefordert. Die Äußerung geistert seit Jahren durch die Publikationen des Bundes der Vertriebenen, die von vielen Spätaussiedlern gelesen werden.
Dass Lafontaine inzwischen nicht mehr für die SPD, sondern als Spitzenkandidat der Linkspartei antritt, scheint der Partei unter Russlanddeutschen noch nicht zu schaden. Viele haben von dem Parteiwechsel des Aushängeschilds, so zeigen Recherchen der taz, noch gar nichts mitbekommen.
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