Ausnahmezustand in Libyen erklärt: Kampf um die Kassen
Etliche Milizen kämpfen um die Macht in Tripolis. Migranten flüchten sich an die Küste – in der Hoffnung auf einen Platz auf einem Schlepperboot.
In der Nacht zu Montag besetzten weitere Brigaden aus westlibyschen Städten Stellungen in Tripolis, das bislang weitgehend von vier Milizen kontrolliert worden war. Diese hätten „die Einheitsregierung und die Zentralbank unter ihre Kontrolle gebracht“, sagte al-Hamali weiter.
Während die Läden und Büros in Tripolis’ Innenstadt weiter geöffnet waren, brachten sich in Ain Zara und anderen Vororten Hunderte Familien in Sicherheit, weil Panzerbeschuss und Kurzstreckenraketen ganze Straßenzüge verwüsteten. Auch Kampfflugzeuge kamen zum Einsatz. Nach Informationen der taz wurden mehr als 100 Menschen bei den jüngsten Kämpfen getötet, mindestens 150 wurden verletzt.
„Noch ist nicht klar, wer in der losen Allianz das Sagen hat“, sagt Menschenrechtsaktivist Hamza al-Nadsch. Die Angreifer vereine die Wut, „keinen Zugang zu den Geldtöpfen der Hautpstadt-Institutionen zu haben“.
Die Regierung hatte mithilfe der internationalen Gemeinschaft die Milizionäre in der Hauptstadt auf die Lohnlisten der Ministerien gesetzt. In der Folge hatten diese die Regierung de facto übernommen. „Dieses Milizen-Kartell wollen die Eliten und Milizen aus anderen libyschen Städten nicht mehr akzeptieren.“
Die international anerkannte Regierung in Tripolis war 2016 eingesetzt worden, konnte ihren Einfluss aber kaum über die Hauptstadt hinaus ausdehnen. Sie konkurriert mit einer Regierung im Osten des Landes.
Ob sich Fayiz al-Sarradsch als Premierminister der Einheitsregierung im Amt halten kann, ist ungewiss. Die Siebte Brigade veröffentlichte auf ihrer Facebook-Seite am Sonntag Dokumente, die zeigen sollen, dass al-Sarradsch der Miliz 150.000 Millionen Dinar für die Einstellung der Kämpfe angeboten habe. „Damit will man beweisen dass die Regierung käuflich ist“, vermutet Aktivist al-Nadsch.
Flüchtlinge zwischen den Fronten
Von den Kämpfen betroffen sind auch die vielen an der westlibyschen Küste festsitzenden Migranten. Die libysche Küstenwache fängt immer mehr Schlepperboote ab und bringt die Menschen zurück ans Festland. Am Donnerstag starben mindestens sechs Menschen durch Granatenbeschuss in einem Flüchtlingslager im Stadtteil Al-Fallah. Das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR und der libysche Rote Halbmond evakuierten daraufhin mehrere Hundert westafrikanische Migranten aus einer Kampfzone.
Schlepper gehen beim Transport von Flüchtlingen über das Mittelmeer zunehmend mehr Risiken ein. Grund sei die libysche Küstenwache, die mehr und mehr Boote abfange. Das ging aus einem am Montag veröffentlichten Bericht des Flüchtlingshilfswerks UNHCR hervor. Zwar sei die Zahl der Überquerungen gesunken, doch verlaufe die Reise häufiger tödlich. 2.276 Menschen seien im Jahr 2017 bei der Überfahrt gestorben, ein Todesfall kam auf 42 Ankünfte in Europa. In diesem Jahr waren es bislang 1.095 Tote, mit einem Todesfall auf 18 in Europa ankommenden Überlebenden. (ap)
Hinter geschlossenen Türen verhandeln Vertreter der Vereinten Nationen in Tripolis seit Wochen über die Standorte von sogenannten Asylzentren, in denen über das weitere Schicksal von Migranten entschieden werden soll. Verhandlungen über geplante Hilfen für die nach Libyen zurückgebrachten Migranten wurden derweil ausgesetzt.
Ein erstes vom UNHCR und dem libyschen Innenministerium gemeinsam geführtes Lager für besonders gefährdete Flüchtlinge sollte bereits Ende Juli eröffnen. Doch finanzielle Forderungen der Miliz, die das Lager Tariq al-Sikka kontrolliert, haben die Unterzeichnung des Abkommens verhindert. In dem Lager haben daher weiterhin ehemalige Revolutionäre das Sagen. Helfern des Roten Halbmonds zufolge leiden die Einsitzenden unter Folter und Zwangsarbeit.
Der Sprecher des UNHCR in Libyen und Tunesien, Tarik Argaz, hatte gegenüber der taz vergangene Woche erklärt, dass bald mit der Evakuierung von Flüchtlingen in den Niger und in andere Staaten begonnen werde. „Um die stark überfüllten Lager zu leeren, müssten die EU-Länder wie versprochen mindestens 4.000 Menschen aufnehmen, die wir ausfliegen wollen.“ Die Evakuierung sollte über den Hauptstadtflughafen erfolgen, der am Sonntag nach Raketeneinschlägen aber vorerst geschlossen wurde.
Viele Migranten machen sich aus Angst vor den Kämpfen nun auf den Weg an die Küste, um möglicherweise doch noch in Europa Zuflucht zu finden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Trump erneut gewählt
Why though?
Harris-Niederlage bei den US-Wahlen
Die Lady muss warten
Pro und Contra zum Ampel-Streit
Sollen wir jetzt auch wählen?
Pistorius stellt neuen Wehrdienst vor
Der Bellizismus kommt auf leisen Sohlen
Abtreibungsrecht in den USA
7 von 10 stimmen „Pro-Choice“
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala