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Die Wahl und die Langfrist-Linken

DAS SCHLAGLOCH von Mathias Greffrath

Vermögensabgabe? Nach der Wahl muss die Linke wohl etwas weiter ausholen

Erinnern Sie sich noch an das „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit?“ Dieses so genannte „Lambsdorff-Papier“ vom 9. September 1982, mit dem Genscher und der Graf die sozialliberale Koalition sprengten und die FDP spalteten? Es lohnt die Lektüre – und es hat mir als Entscheidungshilfe für die Wahl am 18. September gedient.

Lambsdorffs Papier (an dem der spätere Bundesbanker Hans Tietmeyer mitschrieb) zählt knapp die Probleme auf, in denen alle Industrieländer damals steckten: Ölkrise, Liberalisierung des Kapitalverkehrs, Nachfrageschwäche, Arbeitslosigkeit, Globalisierung. Es verschreibt Deutschland eine Radikalkur: flächendeckender Abbau sozialer Leistungen und des Arbeitslosengeldes (Hartz IV wird vorgedacht), Deregulierungen der Arbeitsverhältnisse, Schwächung der Gewerkschaften, Anhebung der Mehrwertsteuer, Steuersenkungen für die Industrie, vor allem den Exportsektor, Abbau der Staatsquote. Kurz, ein angebotsorientierter Mobilmachungsplan, um Deutschland für die kommenden Schlachten auf dem Weltmarkt aufzurüsten. Bis heute ist er die Checkliste aller liberalen Ultras – allerdings mit zwei zukunftsweisenden Akzenten: Die frei werdenden Mittel sollten für große öffentliche Investitionen in Infrastruktur, Verkehr, Forschung und Zukunftsindustrien eingesetzt werden, Arbeitszeitverkürzungen die technologisch bedingte Arbeitslosigkeit kompensieren. Denn diese würde, wenn sie über 2 Millionen stiege – so glaubte nicht nur Lambsdorff damals –, zur politischen Systemkrise führen.

Kanzler Schmidt wurde schmutzig gestürzt, die FDP zerfiel fast darüber. Kohls CDU arbeitete das Lambsdorff-Konzept ab, allerdings – es kreisten noch Fremdkörper wie Blüm und Geißler in der Partei – in einer Light-Version. Immerhin: Bis zur Wende von l989 verdoppelten sich die Profite, die Löhne stagnierten; der Anteil Deutschlands an den Weltexporten wuchs um ein Drittel; die Sozialversicherung wurde ausgehöhlt. Die Einigung wurde über Staatsschulden (was die Reichen reicher machte) und über eine steile Steigerung der Sozialbeiträge (was die Arbeiter ärmer machte) finanziert.

Als die Sozialdemokraten übernahmen, waren 4 Millionen arbeitslos, die Gewerkschaften am Boden, die Verschuldung gigantisch. Welthandel, EU-Liberalismus und Globalisierung hatten den Spielraum des Staates schrumpfen lassen. Mit dieser Erbschaft und mit Schröder als Kanzler war an das rot-grüne Zukunftsprojekt – den Umbau des Energiesystems, das enormes Binnenwachstum gebracht hätte – nicht zu denken. Stattdessen weiter auf dem Lambsdorff-Pfad. Mit dem „größten Steuersenkungsprogramm der Nachkriegsgeschichte“ und der Verbilligung der Arbeitslosenalimentierung.

Deutschland 2005: ein strotzender Exportweltmeister ohne Hinterland. Von 2001 bis 2004 sind die Ausfuhren um 20 Indexpunkte gestiegen, die Ausrüstungsinvestitionen um ebenso viele gesunken, die Investitionen des Staates um 20 Prozent geschrumpft. Keine Infrastrukturimpulse, keine Bildungsexpansion, keine Binnenkonjunktur.

Was ist im Angebot am 18. September? Die CDU verschärft die Steuersenkungspolitik der SPD; die SPD hat neuerdings eine kosmetische „Reichensteuer“ ins Programm genommen und will die Körperschaftsteuer senken. Die Binnenkonjunktur wird beides nicht in Schwung bringen.

Die Politik der letzten zwanzig Jahre ist der Dynamik der Globalisierung gefolgt. Das hat Wachstum und Gesellschaft gespalten: Exporteure und Transnationale prosperieren zweistellig; Binnenwirtschaft und lokale Dienstleister gehen bankrott. Die Schrumpfkur des Sozialstaates, die Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmer haben nicht zur Modernisierung der Volkswirtschaft geführt, sondern die Geldvermögen verdoppelt und die internationalen Konzerne noch rentabler gemacht.

Wie sähe ein Kurswechsel aus? An den Widrigkeiten globaler Produktion und Arbeitsmärkte wird auch eine – wünschbare – solidarische Umverteilung von den „Reichen“ zu den ALG-II-Beziehern à la Linkspartei nichts ändern. Ein deutscher Mindestlohn linderte das Elend in den deregulierten Dienstleistungsmärkten – aber er liefe auf eine Umverteilung innerhalb der Lohnabhängigen hinaus oder auf eine Verlagerung von Kleinproduktionen über die Ostgrenzen. Sinnvoller und populärer wäre wohl am ehesten eine Besteuerung des 1 Bevölkerungs-Prozents, das 60 Prozent der 4 Billionen Geldvermögens besitzt: bei 5 Prozent wären das 120 Milliarden im Jahr. Damit könnte man schon ordentlich Staatsschulden tilgen oder Lehrer einstellen – und es wäre ein kleiner Lastenausgleich für zwanzig Jahre Steuer-Bonanza.

Aber nach der Wahl muss die Linke wohl etwas weiter ausholen. Die Szenarien der ultraliberalen Großdenker sind ja realistisch: Die Löhne werden in einem Europa ohne Grenzen und Sozialverfassung nach unten tendieren; die Exportprofite mögen jetzt noch zweistellig sein, auf Dauer geraten sie unter den Druck der neuen Giganten China und Indien.

Lambsdorffs nationalkapitalistische Ruck-Strategie hatte immerhin noch drei Ziele: den Abbau des Sozialstaats, um einen Sockel davon zu retten; die Wiederherstellung „echter“ Vollbeschäftigung, und eine große Modernisierungsanstrengung, um Wohlstand und Demokratie nachhaltig zu sichern. Die Regierungen seither haben allenfalls den ersten Punkt abgearbeitet. Das hat Gesellschaft, Wachstum und Wohlstand gespalten. Lambsdorffs nationaler Rettungsplan aus dem Jahre l982 ist heute überholt. Gegen die Erschöpfung des Öls, gegen Fonds und Finanzmärkte, gegen technologische Arbeitslosigkeit helfen nur noch europäische Initiativen.

Nicht überholt ist das Insistieren darauf, dass der Kapitalismus politisch gesteuert werden kann; dass die demokratische Arbeitsgesellschaft nur durch eine massive Arbeitszeitverkürzung bewahrt wird; dass zukunftsorientierte Wachstumsimpulse des Staates bedürfen. So war es bei der Einführung des Schienenverkehrs, der Elektrizität und des Automobils. Auch die nächste große „Kondratieff“-Konjunkturwelle bedarf staatlicher Politik: die Ersetzung des auslaufenden Energiemodells durch die europaweite Einführung regenerativer Energien. Und wer, wenn nicht eine neu geborene, eine europäische SPD könnte in absehbarer Zeit die politischen Kräfte bündeln für ein solches Großprojekt?

Lambsdorff wollte, alser Schmidt stürzte, zwar auch sparen – aber das Ersparte in Neues investieren

Nach den Schröder-Jahren braucht die SPD, so hat es Peter Glotz jüngst geschrieben, viel Zeit und einen großen „Lernschmerz“, um für diese historische Aufgabe Kraft zu sammeln. In einer Agenda-Koalition würde sie viel Zeit verlieren und nichts dazulernen. Umdenken und sich personell erneuern kann sie nur in der Opposition.

Und deshalb müsste man als Langfrist-Linker heute zwingend FDP wählen. Ich mag diesen Gedanken überhaupt nicht. Aber ich kann mich ihm, je länger ich darüber nachdenke, nicht entziehen. Ich fürchte allerdings, dass sich meine Hand am 18. September in der Wahlkabine meinem freien Willen entziehen wird – was ja, beim gegenwärtigen Stand der Gehirnforschung, nur natürlich wäre.

Fotohinweis: Mathias Greffrath lebt als Publizist in Berlin.

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