: Der Apostel vom Arendsee
In Arendsee in der Altmark kämpfen ein paar Unverdrossene für das Andenken an den Naturmenschen, Wanderprediger und Lebensreformer Gustav Nagel. Seinen Paradiesgarten am See wollen sie zu einer Touristenattraktion machen. Doch der Weg ist mühsam, und an Unterstützung mangelt es in der Kleinstadt
Von Sven-Michael Veit
Beispielhaft sei die „absolute Naturverbundenheit“ von Gustav Nagel, sagt Antje Pochte: „Schon vor 100 Jahren hat er wichtige Themen unserer Zeit vorweggenommen: Klimaschutz, Ressourcenschonung, gesunde Ernährung.“ Aber selbst wenn der Wanderprediger aus der Altmark im Nordwesten Sachsen-Anhalts „ein wenig verrückt“ gewesen sein sollte, sagt die stellvertretende Vorsitzende des Gustav-Nagel-Fördervereins in der Kleinstadt Arendsee, „ist er ein Mann der Zeitgeschichte, der gewürdigt werden muss“.
Und zwar genau hier, auf diesem kleinen Gartengrundstück in Arendsee am Arendsee, unmittelbar östlich des Wendlands, wo Nagel die meiste Zeit seines Lebens verbrachte. Als Friedensapostel, Tempelwächter oder religiöser Schwärmer galt er vielen, manche nannten ihn „Kohlrabi-Apostel“, andere hielten ihn für einen komischen Kauz oder schlicht Spinner.
Zudem erfand Nagel seine eigene Rechtschreibung ohne Großbuchstaben und Doppellaute, schaffte Interpunktion und das „v“ ab und nannte sich fortan gustaf, Arendsee arendse und Gott got. Auch seine Texte und Postkarten, von deren Verkauf er unter anderem lebte, verfasste er in seiner ausspracheorientierten Schreibweise. „schreibe wi du sprichst“ lautete sein Motto. „Super“, findet Antje Pochte, Leiterin der Reformpädagogischen Jeetze-Gesamtschule im nahen Salzwedel, Nagels Rechtschreibreform: „Das war eine wirkliche Vereinfachung.“
Sicher ist, dass der 1874 geborene Gustav Nagel ein Naturmensch war. Selbst im Winter lief er nur barfuß und badete täglich im See, meist trug er nur einen Lendenschurz, einen togaähnlichen Überwurf oder ein Leinengewand, das Haupthaar wallte mehr als schulterlang, der Vollbart zauselte. Auf seinem Grundstück am Arendsee lebte er zunächst in einer Erdhöhle, dann in einer einfachen Holzhütte – ohne Strom, Licht, Wasser und Toilette.
Freie Liebe und gesundes Leben
Beeinflusst von den Lehren von Pfarrer Kneipp ernährte Nagel sich vegan von Gemüse, Früchten und Wasser, er predigte die gesunde Lebensweise und die freie Liebe, war dreimal verheiratet, hatte zahlreiche Affären und mindestens drei Kinder, weitere erkannte er nicht an. Nagels Lebensentwurf aus Vegetarismus, Pazifismus, Landkommune, Künstlerkolonie und Reformpädagogik war nicht jedem geheuer. Im Jahr 1900 wurde er vom Amtsgericht Arendsee entmündigt, drei Jahre später wurde der Beschluss wieder aufgehoben.
Die pensionierte Lehrerin Christine Meyer hat Nagel als Sechsjährige 1948 bei einer seiner Predigten im Garten am See kennengelernt: „Er sagte, er habe in der Nacht mit Gott gesprochen“, erinnert sich die heute 76-Jährige. „Wie ein Prophet kam er mir vor.“ Respekt habe sie vor ihm gehabt, ihn deshalb „nie geärgert“ und auch „nicht seine Äpfel geklaut wie die anderen Kinder“. Nagel und sein Wirken dürften nicht in Vergessenheit geraten, findet Meyer, aber die Stadt habe daran kein Interesse.
„Interesse haben wir schon, aber kein Geld“, sagt Bürgermeister Norman Klebe. „Wir bekennen uns zu Nagel, er hat einen hohen Stellenwert für uns, auch touristisch“, deshalb würde die Stadt den Nagel-Förderverein auch tatkräftig unterstützen. Die Stadt verlange keine Pacht für das Grundstück und manchmal helfe der städtische Bauhof mit Material aus. Das sei „ein Ort der Ruhe“ am See, der erhalten bleiben soll, sagt der 39-jährige Christdemokrat, der selbst Mitglied im Gustav-Nagel-Förderverein ist. Aber städtisches Geld sei knapp, sehr knapp.
250.000 Touristen kommen jährlich nach Arendsee, der „Perle der Altmark“. Auf einer Fläche von einem Drittel Hamburgs leben gerade mal 7.000 Menschen in 16 Ortsteilen, 2.500 davon in der Stadt selbst. Etwa ein Drittel der Wirtschaftsleistung stammt aus dem Tourismus, dessen Hauptattraktion der fast runde Arendsee ist, mit 5,5 Quadratkilometern der größte See Sachsen-Anhalts. Pläne für eine Tourismus-App für den 9,7 Kilometer langen Erlebnisrundweg, die auch Wissenswertes über Gustav Nagel und seinen Garten vermitteln soll, sind jedoch ins Stocken geraten. „Das Geld“, sagt Bürgermeister Klebe, „das Geld.“
„Alle Hände voll zu tun“ hat Michael Meyer, Chef der Luftkurort Arendsee GmbH, die im Auftrag der Stadt die touristische Infrastruktur betreibt. „Das Strandbad, das Fahrgastschiff ‚Queen Arendsee‘, der Campingplatz“, zählt er auf. Aber das Ansehen von Nagel werde „schon gepflegt“, beteuert er: „Er ist doch ganz populär hier“, auch stehe ja seit 2013 mitten in der Stadt kurz vor dem Rathaus eine Gustav-Nagel-Statue: „Wir haben ihn gerne“, sagt Meyer.
„Luft, See und Nagel – das passt“
Politik und Tourismusverein sei die Bedeutung Nagels „nicht wirklich bewusst“, findet hingegen Antje Pochte. Der Wiederaufbau des Grundstücks sollte „ganz oben auf die Prioritätenliste gesetzt werden“, und dann sollte Arendsee mit Nagel touristisch werben, aber niemand hier mache ein stimmiges Tourismuskonzept: „Die Luft, der See, die ganze Natur rundherum und Nagel als Sinnbild gesunder Lebensweise – das passt gut zusammen.“ Nagel sei eben zeitlebens ein Nonkonformist gewesen und damit „überall angeeckt“, ergänzt Ulrich Seedorff, der Vorsitzende des Fördervereins. Im Kaiserreich, während der Weimarer Republik, unter den Nazis und später bei den Sowjets und der SED – „mit allen hat er sich angelegt“, und auch das sei in Arendsee noch nicht vergessen.
1910 hatte Nagel, zurück von einer Wanderung, die ihn natürlich barfuß durch Italien, nach Alexandria und Jerusalem geführt hatte, das kleine Grundstück am Ufer gekauft und seinen paradisgarten angelegt. Aus Muschelkalk erbaute er dort einen Seetempel, eine Kurhalle und weitere Gebäude; Phallussäulen, die er zu seinen Predigten mit der schwarz-weiß-roten Fahne des Kaiserreichs beflaggte, und Lotosblumen erinnerten an die freie Liebe. Nagel wurde in der Nach-Kaiser-Zeit zur Attraktion, in manchen Jahren verkaufte er mehr als 10.000 Eintrittskarten zu zehn Pfennigen und war zeitweise der größte Steuerzahler von Arendsee.
Das brachte ihm einige Unterstützer im Ort ein, vor allem aber Neider. Mehrere medizinische Gutachten über seinen Geisteszustand, mit denen Gegner seinen als skandalös empfundenen Lebenswandel behindern wollten, beeinträchtigten seine Popularität indes nicht.
Das änderte sich komplett unter der NS-Diktatur. Schon seit 1933 predigte Nagel gegen die Judenverfolgung, später gegen den Krieg. 1935 wurde sein Garten geschlossen, er durfte keine zahlenden Besucher mehr empfangen und erhielt Redeverbot, die Hitlerjugend verwüstete die Anlage, mehrfach wurde gegen Nagel wegen „staatsfeindlicher Betätigung“ ermittelt.
Nachdem er 1942 in einem Brief an Reichspropagandaminister Joseph Goebbels dessen Gerede vom „entsig“ eine „lüge“ nannte, wurde er verhaftet und ins KZ Dachau gebracht, wenig später aber schon in die Nervenheilanstalt Uchtspringe bei Stendal verlegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wollte Nagel seinen Garten wieder aufbauen, machte sich aber mit kritischen Äußerungen über die sowjetische Besatzungsmacht unbeliebt. Wegen seiner mehrfachen Ankündigung, den Welfenprinzen Ernst August von Hannover in Arendsee zum „könig von deutschland“ krönen zu wollen, wurde Nagel 1950 erneut in Uchtspringe eingeliefert, wo er 1952 mit 77 Jahren an Herzversagen starb.
„Sein Leben und Wirken ist unmittelbar mit der Stadt und dem See verbunden“, sagt Antje Pochte. Aber die 20 Vereinsmitglieder könnten den Garten, in dem noch Bruchstücke des Seetempels und anderer Bauten stehen, nicht aus eigener Kraft wieder aufbauen. Mehrmals im Jahr macht Pochte hier mit Achtklässlern aus ihrer Schule einen Projekttag, dann wird die Anlage ein wenig auf Vordermann gebracht. „Es geht aber nur schleppend voran“, räumt die 48-Jährige ein, weitere Förderer und Unterstützer könnte der Verein gut gebrauchen. „Das lohnt sich“, sagt Pochte: „Dieser Garten hat eine besondere Energie – fast wie ein magischer Ort.“
Gustav-Nagel-Förderverein Arendsee e. V., c/o Antje Pochte, pochtea@web.de
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen