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Fußball-WM im UralMythos Jekaterinburg

Die Millionenmetropole, deren berühmtester Sohn Boris Jelzin war, gilt als aufmüpfig. Jetzt schleift der Kreml auch diese Bastion.

Passanten in Jekaterinburg machen Fotos vor dem WM-Schriftzug Foto: dpa

Jekaterinburg taz | Jekaterinburg im Ural eilt der Ruf einer besonders offenen und liberalen Stadt voraus. Kritische Geister sollen es hier nicht ganz so schwer haben wie anderswo. Gelegentlich gelingt es sogar einem unabhängigen Kandidaten, in ein Amt gewählt zu werden. 2013 schaffte Jewgeni Roisman den Sprung ins Rathaus als Bürgermeister der Anderthalb-Millionen-Einwohner-Stadt.

Der 55-Jährige ist ein lebendiger Mythos in der Uralmetropole. Ein Hüne und Frauenschwarm mit Dreitagebart. Ein Marathonläufer, der die Drogenabhängigkeit in der Region seit vielen Jahren mit recht eigenwilligen Methoden bekämpfte und dafür nicht nur gelobt wurde. Entzug und Freiheitsberaubung lagen dicht beieinander. Er hatte aber Erfolg, und die Bürger schätzten ihn.

Vor Kurzem trat Roisman aus Protest zurück. Das Stadtparlament hatte beschlossen, den „Mer“ wie die Russen den Bürgermeister nennen, im Herbst selbst zu wählen und die Wähler fernzuhalten. Roisman hätte keine Chance, von der Mehrheit der Kreml-Partei in der Stadtduma wiedergewählt zu werden.

Er entspricht nicht dem Bild jener Apparatschiks, die das Land unter sich aufteilen. Geld hatte er übrigens als Ikonenhändler verdient, und er hatte der Stadt auch ein Museum gestiftet. Ein Heiliger ist er deswegen noch lange nicht, auch kein Vorzeigedemokrat. Er will gehört werden, mitreden und mitentscheiden. Auch die letzten Rückzugsorte des unabhängigen Bürgerwillens werden indes von Moskau geschleift.

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Die Spiele sind eröffnet, hier wird gespielt. Viele der Stadien wurden extra zur WM in Russland aus dem Boden gestampft.

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„Unsere Stadt umgibt ein Mythos der Andersartigkeit. Wir sollen freiheitsliebender sein als andere Regionen“, meint Dmitri Koselew. Er ist stellvertretender Chef der unabhängigen Webagentur znak.ru, die über den Ural hinaus wahrgenommen wird. „Es ist eine lebendige Stadt, aber sie bildet keinen Gegenpol “, sagt er. In den letzten Jahren wählte der Ural ähnlich wie andere Regionen.

Pfleglicher Umgang

Das Znak-Büro liegt zwischen der Marx- und der Engelsstraße. Die Hauptstraße bleibt Revolutionsführer Lenin vorbehalten, mit dem junge Leute sogar noch etwas anfangen können. Beharrungsvermögen oder vorsichtiger Umgang mit Geschichte?

Dank der Fußball-WM wurden konstruktivis­tische Bauten aus den 1920ern renoviert. Andernorts wird nicht so pfleglich mit den moder­nistischen Relikten der frühen Sowjetzeit umgegangen. In Jekaterinburg prägen sie das Zentrum. Die eigentliche Stadt sind die sowjetischen Wohnviertel rund um die Fabriken.

Giganten wie Uralmasch oder Chimsawod sind legendäre sowjetische Unternehmen. Röhren, Metalle und Rüstungsgüter stellen sie her. Die Wirtschaftslage sei dank staatlicher Rüstungsaufträge seit Jahren gut. Auch die Metalle, derentwegen der Ural vor 300 Jahren erschlossen wurde, gingen trotz ­amerikanischer Sanktionen in den Export, meint Koselew.

Kurzum, der Stadt geht es gut. Auch die Inaugenscheinnahme der Fabriken bestätigt dies. Wie waren sie heruntergekommen, als vor 20 Jahren noch die Mafia in Jakaterinburg das Sagen hatte. Rüstungsbetriebe stellten auf zivile Produktion um. Die elektrisch betriebene „Schaschlitschniza“ mit sechs Spießen war zwar gut gemeint, setzte sich aber nicht durch. Nach dem zweiten Einsatz stellte sie den Betrieb ein.

Also zurück zu dem, was man kann. Auch an der Bombe wird hier gebaut, erzählt eine ältere Frau. Sie meint die Atombombe und spielt mit dem Handy, auf dessen Rückseite Oberbefehlshaber Putin in Marineuniform grüßt. Sie freut sich über die Gäste, die zur WM anreisen. Wem die Bombe gilt, daran denkt sie gar nicht.

Engagierte junge Leute

„Viele engagierte junge Leute sind in der Stadt“, sagt Historiker Konstantin Bryljakow. Er arbeitet auch im Tourismusbereich. „Die WM ist für uns sehr wichtig. Früher waren wir eine geschlossene Stadt. Niemand kam herein, schon gar keine Ausländer.“ Auch das Trauma des Zarenmords laste noch auf der Bevölkerung.

Im Juli 1918 wurde die Zarenfamilie in Jekaterinburg ermordet. Einige Leichen wurden in stillgelegten Schächten in den Hügeln entsorgt. Seit der Heiligsprechung des Zaren nutzt die orthodoxe Kirche jede Gelegenheit, die Geschichte für sich zu instrumentalisieren. „Wir sind zurzeit in einer konservativen Phase“, die werde aber nicht ewig dauern, winkt der Historiker ab. „Für Russland sind wir schon fortgeschritten.“

Koselew sieht es nüchterner. Er spricht der Stadt einen Doppelcharakter zu. „Etwas Asiatisches haftet ihr an“, behauptet er. In der neuen Glas- und Spiegelarchitektur zeige sich vor allem die ästhetische Vorliebe des Ostens. Das Zeitverständnis sei auch nicht europäisch. Doch lassen wir das.

Jekaterinburg liegt an der Wasserscheide zwischen Ost und West. Es gilt als letzte Millionenstadt im europäischen Teil des Landes. Tatsächlich ist es die erste Metropole und auch der einzige WM-Ort im asiatischen Teil. Europa beginnt im Westen der Stadt. In den Hügeln bei Perwouralsk liegt der Scheitelpunkt. Eine Stele mit doppelköpfigem Adler markiert die geografische Trennung. Kaum ein Bürger der Stadt würde sich indes für einen Asiaten halten.

Museum für Jelzin

Der Mythos der Aufmüpfigkeit hat auch etwas mit dem bekanntesten Sohn der Stadt zu tun. Russlands erster Präsident, Boris Jelzin, arbeitete als kommunistischer Regionalchef in der Stadt, die damals noch Swerdlowsk hieß. 1991 demontierte Jelzin das kommunistische System. Notgedrungen entließ er auch die rebellierenden sowjetischen Kolonien in die Selbstständigkeit.

Der Aufbau der Demokratie schlug in Russland fehl. Die Ära Putin machte Jelzin aus ideologischen Gründen zu einem Prügelknaben. In Deutschland nannte man das früher „Verzichtspolitiker“.

Dennoch erhielt der erste Präsident ein Museum. Wladimir Putin opferte gar ein Monatsgehalt von 2.000 Dollar dafür. Das mondäne, lichtdurchflutete Gebäude steht am großen innerstädtischen Teich. Geschichte und Zwänge der Jelzin-Jahre werden nachgezeichnet, ohne den Präsidenten zu idealisieren, meint Jewgenia Kapitonicha vom Jelzin-Zentrum. Die Jugend nehme das Museum und den Veranstaltungsort auch an.

Zurzeit hat sie jedoch anderes zu tun. Sie feiert mit den Gästen aus Südamerika. Laut Znak habe die Polizei schon kapituliert. Unter anderen davor hatte die kommunistische Abgeordnete Tamara Pletnewa kürzlich noch gewarnt. Russische Mädchen und andersfarbige Männer? Schrecklich.

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