: 51 Tage,1 Tarifvertrag
Jahrelang haben landeseigene Betriebe Tarifverträge für ihre Beschäftigten ausgehebelt – durch nicht tarifgebundene Tochterfirmen. Dass das anders werden soll, hat sich Rot-Rot-Grün in den Koalitionsvertrag geschrieben. Die Beschäftigten der Vivantes-Tochter VSG mussten dennoch erst acht Wochen streiken, bis es überhaupt zu Verhandlungen kam
Von Daniél Kretschmar
Nackt ist das Männlein der Skulptur „Menschen und Gepäck“ des seit 1969 in Berlin lebenden österreichischen Bildhauers Gerald Matzner an diesem Montagmorgen nicht. „Wir streiken“ steht auf der weißen Plastikweste, die ihm übergezogen wurde.
Ungerührt schaut es mit weit ausgebreiteten Armen auf das Hauptgebäude des Auguste-Viktoria-Klinikums in Schöneberg, in seinem Rücken ein Pavillon-Zelt, ein paar Bänke. Männer und Frauen sitzen da, rauchen, reden, manche schauen etwas gelangweilt in die Gegend. Es ist der 48. Streiktag, an dem die MitarbeiterInnen der Vivantes Service Gesellschaft (VSG) ihren Stützpunkt vor einem Berliner Krankenhaus aufgebaut haben.
In dieser achten Streikwoche sind täglich Aktionen vor einer anderen Klinik und der Vivantes-Zentrale geplant – außer am Dienstag, da ist Streikversammlung in der Verdi-Zentrale. Die gewerkschaftliche Tarifkommission hat Neuigkeiten zu berichten. Nach langem Schweigen hat sich die Geschäftsführung der VSG auf Druck ihrer Muttergesellschaft, des Vivantes-Konzerns, bereit erklärt, wieder Gespräche über einen Tarifvertrag aufzunehmen. Der längste Streik in der Vivantes-Geschichte wird damit immerhin nicht mehr ignoriert.
Die Angestellten der VSG arbeiten im Facility Management, in der Logistik und Patientenbegleitung oder der Sterilgutaufbereitung. Die VSG wurde 2011 als hundertprozentige Vivantes-Tochter gegründet. Für Beschäftigte, die dorthin ausgelagert wurden, die sogenannten Gestellten, gilt weiterhin der Manteltarifvertrag des Mutterunternehmens. Doch neu Eingestellte werden zu deutlich schlechteren Bedingungen beschäftigt. So verrichten gut dreihundert der rund neunhundert VSG-Angestellten dieselben Arbeiten wie ihre gestellten KollegInnen – aber für deutlich weniger Lohn. Kalle Kunkel, Gewerkschaftssekretär bei Verdi, spricht von bis zu einem Drittel Gehaltseinbußen, die den Altbeschäftigten nur wegen starker Proteste während des Outsourcingprozesses erspart blieben.
Holger Steinmetz gehört zu den neu Eingestellten. Er hat erst 2011 in der Sterilgutaufbereitung bei der VSG angefangen – ohne den Schutz des Tarifvertrages. Deshalb streikt er: „Ein Haus, ein Tarifvertrag. So einfach ist das.“ So einfach will es der Konzern aber nicht haben.
Neben der VSG führt Vivantes noch ein Dutzend weiterer Tochtergesellschaften in seinen Bilanzen. Besonders jene, die für Dienstleistungen wie Essensversorgung oder Reinigung eingesetzt werden, waren nach schweren Finanzproblemen des Unternehmens, die 2004 beinahe in die Insolvenz führten, zur Kostenersparnis gegründet worden. Der seinerzeit zuständige Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) hatte damals erklärt, dass er von den Beschäftigten des Krankenhauskonzerns „einen Beitrag zur Behebung der finanziellen Schieflage des Unternehmens“ erwarte.
Am Dienstag, dem 49. Streiktag, sammeln sich die Streikenden im Innenhof der Verdi-Zentrale an der Köpenicker Straße. Die Räume im Haus tragen die Namen von Opern des italienischen Komponisten Guiseppe Verdi: Nabucco, Othello. Die Streikversammlung findet im Raum Aida statt.
Der Triumphmarsch ist heute allerdings nicht im Programm, die Atmosphäre ist angespannt. Die VSG-Geschäftsführung hat zwar angekündigt, verhandeln zu wollen, aber noch kein Angebot vorgelegt.
Die gewerkschaftliche Tarifkommission hat die schwierige Aufgabe, den Streikenden einerseits eine positive Entwicklung zu verdeutlichen, andererseits aber auch keine zu großen Erwartungen zu wecken.
„Hoffentlich haben sie’s verstanden“, sagt Meike Jäger mit Blick auf die VSG und den ganzen Vivantes-Konzern. Jäger, die zuständige Fachbereichsleiterin bei Verdi, ist in der Verhandlungsdelegation. Vor den Streikenden fasst sie die Erwartungen der Tarifkommission zusammen. Die VSG ist zu Gesprächen bereit, immerhin, es ist jedoch auch ein deutlicher Schritt nötig auf die ArbeitnehmerInnen zu. Deren Forderung ist ein kurzer Wechselgesang: „Taaaa-rifvertrag!“ ruft es in den Saal, der im Chor antwortet: „Jetzt!“
Dass der Arbeitgeber ein Angebot noch am Dienstagabend, spätestens aber am Mittwochmorgen übersenden will, ist in diesem Moment Stand der Dinge. Der Verhandlungsort steht noch nicht fest, die VSG will das Treffen nicht in der Konzernzentrale abhalten. Holger Steinmetz findet das schade: „Es hallt so schön in der Aroser Straße“, grinst er. Später am Tag legt man sich auf das Auguste-Viktoria-Klinikum fest. Das mobile Streiklokal wird am Mittwoch also erneut in Schöneberg aufgeschlagen, das Männlein mit der Streikweste verhüllen.
Der Konflikt mit Vivantes ist nicht der einzige Arbeitskampf, der in Berlin derzeit gegen Unternehmen des Landes oder mit Beteiligung der öffentlichen Hand geführt wird. Nach dem Bankenskandal 2001 und der dadurch verursachten massiven Überschuldung Berlins setzte eine Privatisierungs- und Outsourcingwelle ein, deren Wirkungen bis heute zu spüren sind. Nicht zuletzt Kitakrise und Mietenwahnsinn haben damals zwar nicht unbedingt ihren Ursprung genommen, wurden aber durch billige Abverkäufe von Landeseigentum drastisch verschärft. Und die Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen wurde zu einer gängigen und akzeptierten Methode der Haushaltsbereinigung für Landesunternehmen.
Entsprechend ideologisch belastet sind selbst so vergleichsweise kleine Auseinandersetzungen wie die um die VSG. Mit der letzten Berlin-Wahl 2016 jedoch hat sich das Spielfeld der Tarifkonflikte nach Jahren des alles bestimmenden Sparzwangs zugunsten der Arbeitnehmerseite verändert.
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