Discounter bauen Wohnungen: Schnell mal im Pyjama runter zu Aldi
Was tun bei Wohnungsnot? Zelten, die Stadt verlassen – oder bei Aldi, Lidl und Co. einziehen: Viele Discounter stocken Filialen mit Wohnungen auf.
Ein schlauer Amerikaner vermietet einen Schlafplatz in einem Zelt – für 900 Dollar im Monat. Okay, das ist eine stolze Summe, aber eine gute Lage hat eben ihren Preis: Das Zelt steht in unmittelbarer Nähe zum Google-Standort im kalifornischen Mountain View. Eine Dusche pro Tag im Haus des Gastgebers ist auch gleich mit inbegriffen.
Klar, nachts kann es auch in Kalifornien kalt werden, und Zelten ist nichts für jedermann. Ein 25-jähriger Illustrator mietet deshalb lieber eine Holzbox. Die steht im Wohnzimmer seines Vermieters, ebenfalls in Kalifornien. Die Box kostet 400 Dollar im Monat und beinhaltet außer einem Bett ein winziges Bücherregal und eine Lichterkette – für eine heimelige Atmosphäre. Fotos zu beiden Wohnlösungen sind bei Business Insider einsehbar. Versehen mit dem Hinweis, dass sich der Boxbewohner wohl bald eine neue Wohnstätte suchen müsse, weil das Bauamt seine Schlafstätte als illegal bezeichnet habe. Überraschung.
Derart prekär ist die Lage in Deutschland noch nicht. Dennoch soll es Menschen geben, die auf ein Hausboot ausweichen oder gleich in eine andere Stadt ziehen (der Trend geht von Berlin nach Leipzig), weil sie keine bezahlbare Wohnung finden.
Die gute Nachricht lautet: Für einige Glückliche könnte es bald eine Lösung geben. Weil die Politik doch noch aufwacht und schleunigst Wohnungen baut? Natürlich nicht. Doch wo die Politik schläft, ist die Wirtschaft aufgewacht. Genauer: die Lebensmittel-Discounter. Nicht, weil sie besorgt wären um die Zukunft der Menschen. Eher weil sie müssen – wenn sie weiter expandieren wollen. Es geht halt doch nicht ohne Zwänge, und seien es ökonomische.
Kauf dir deine Konsumenten
Viele Discounter wollen ihre Verkaufsflächen vergrößern, kriegen aber keine Baugenehmigung, denn: Riesige Freiflächen mit Parkplätzen und einstöckige Discounter-Hallen sind einfach nicht mehr rentabel, vor allem in zentralen Lagen. Deswegen ist die Baugenehmigung in vielen Fällen nun an die Bedingung gekoppelt, dass Discounter auch Wohnraum anbieten. Bei vielen Filialen ist das kein Problem: Sie werden einfach aufgestockt.
Und die Parkplätze wandern unter die Erde – oder ins Erdgeschoss. Darüber wird verkauft – und nochmal eine Etage darüber wird gewohnt. Der Vorteil für die Discounter liegt auf der Hand: Sie kommen auf diese Weise nicht nur an die Baugenehmigung und an begehrte Grundstücke in beliebten Gegenden. Neue Kunden akquirieren sie gleich mit – denn nicht wenige Mieter dürften doch allein aus Bequemlichkeit direkt im Haus einkaufen, ob es da nun ihre Lieblingscornflakes gibt oder nicht.
Der Vorteil für den Mieter? Billige Mieten! Aldi Nord beispielsweise will für den Quadratmeter zwischen 6,50 und 10 Euro Kaltmiete nehmen – und das in Berlin, wo die Mieten in den letzten Jahren rasant gestiegen sind und in den meisten Fällen mittlerweile locker über zehn Euro liegen. Dort wird der Discounter rund 2000 neue Wohnungen bauen, wie er soeben angekündigt hat.
Die ersten 200 sollen in Kürze in Neukölln und Lichtenberg gebaut werden. 30 Standorte habe man insgesamt in Berlin im Blick. Und es könnten noch mehr werden: Die Stadt hat berechnet, dass sich 330 von insgesamt 1000 Filial-Standorten zur Umrüstung eignen – was alle Discounter, nicht nur Aldi, einschließt. 36.000 Wohnungen sollen dort Platz finden, wie das ARD-Magazin „Plusminus“ kürzlich berichtete.
Auch Ikea will mitspielen
Lidl macht auch mit. Und plant in Frankfurt am Main 110 Wohnungen im Gallus-Viertel. 40 davon über einer neuen Filiale, 70 in einem separaten Gebäude daneben. In Frankfurt-Niederrad sollen das Dach einer Filiale begrünt, eine Photovoltaik-Anlage gebaut und eine Ladestation für E-Autos errichtet werden (Wohnungen sind an dem Standort nicht geplant). Die Stadt feiert das Vorhaben als Leuchtturmprojekt.
Im bayerischen Tegernsee wollte das Unternehmen ebenfalls Wohnungen über einer Filiale anbieten, bekam dort aber erst eine Genehmigung, als es sich verpflichtete, siebzehn davon als Sozialwohnungen zur Verfügung zu stellen. Auch eine Wohngemeinschaft für Schwerstkranke war im Gespräch. Lidl ist nicht neu im Geschäft. Seit sieben Jahren vermietet die Firma bereits vierzig Wohnungen in Berlin-Prenzlauer Berg.
Norma setzt noch eines drauf. Über eine Filiale in Nürnberg hat es eine Kita gebaut – betrieben von der Johanniter Unfallhilfe. Mit Wasserspielplatz und Bambus-Labyrinth auf dem Dach. Wohnungen sollen bald auf dem Grundstück daneben entstehen.
Bei verschiedenen Discountern gibt es auch Überlegungen, Büroräume und Arztpraxen zu integrieren.
Mitspielen wollen neben den Lebensmittelhändlern auch andere Unternehmen: Ikea kündigte vor wenigen Tagen an, mit lokalen Partnern Konzepte für Wohnungen und Büros über Filialen in den Innenstädten auszuarbeiten.
Für die Versäumnisse der Politik einspringen?
Doch es gibt auch kritische Stimmen. Marco Atzberger vom Handelsinstitut EHI gab der dpa gegenüber zu bedenken, die Großunternehmen seien keine Experten für Reparaturen und Mieterbeschwerden und müssten sich insofern erst noch auf dem Gebiet der Vermietung bewähren – wenn sie die Wohnungen denn selbst verwalten wollten und diesen Bereich nicht in die Hand von Profis geben wollten – wie es zum Beispiel Ikea angekündigt hat.
Andere Kritiker finden es falsch, dass die Wirtschaft – mit ihrem Profitinteresse – für die Versäumnisse der Politik einspringt.
So oder so, die Wohnungen über den Discountern werden kommen. Sie werden vielen Menschen ein bezahlbares Dach über dem Kopf sichern. Die riesigen Parkplätze vor den Geschäften werden dafür nach und nach verschwinden. Was ein bisschen schade ist: Weil somit ein paar schöne Dinge für immer der Vergangenheit angehören werden: An Sonntagen dort Inline-Skates fahren oder heimlich Autofahren üben.
Andererseits entgehen wir so dem Nächtigen in Zelten oder Holzboxen auf den Grundstücken von Fremden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“