: Was unter der Hand kursierte
Von Peter Brötzmanns „Machine Gun“ zu den Plastic People of the Universe. Die Ausstellung „Underground und Improvisation“ in der Akademie der Künste vereint das Schaffen von Jazz- und Rock-Ikonoklasten in Ost und West der Sechziger
Von Robert Mießner
Die in Nacht gehüllte Stadt liegt am Fluss, die Wolken queren den Vollmond im Rhythmus eines metallischen Shuffle-Beats. Mantraartig wird er sich durch die nächsten 30 Minuten ziehen; Glockenspiel und Pauken fahren hinein. Am Schlagzeug sitzt in Anzug und Krawatte ein Blondschopf, er trommelt mit der konzentrierten Versunkenheit eines Schamanen, lässt dabei schon mal das Handmikrofon auf die Toms treffen und ein Flügelhorn Signaltöne ausstoßen. An gut gefüllten Bücherregalen geht der Musiker dann vorbei und in nachexpressionistischer Schattenästhetik eine Altbautreppe hinauf; betrachtet Gemälde und Kunstobjekte von ikarushafter Unruhe und konstruktivistischer Abstraktion. Wir sehen ihn in einem Landhaus mit einer jungen Frau vor einem Beatlesposter, dann am See angelnd. Schnitt, und die Kamera fährt in sein Publikum. Eine Zuhörerin schüttelt den Kopf, doch scheint sie das aus Faszination zu tun. Was für ein Leben!
Wir sehen den Freejazz-Schlagzeuger Wladimir Tarassow, bekannt durch seine Arbeit mit dem Ganelin-Trio, einer der markantesten Formationen der russischen und litauischen Jazzszene der 1970er und 1980er, in dem 1989 entstandenen Kurzfilm „Die 634 Takte des Wladimir Tarassow“. Gedreht haben ihn der sowjetische Regisseur Swjatoslaw Tschekin und der Künstler Jurij Sobolev: Sie zeigen Tarassow ohne Worte in seinem Alltag, auf der Bühne bei einem Konzert, im Gespräch mit bildenden Künstlern und inmitten seiner Kunstsammlung, darunter Algimantas Kuras, Valentinas Antanavičius und Eugenijus Cukermanas.
Drei Stunden oder drei Tage
Das Kleinod ist eines der Exponate der an Material reichen Ausstellung „Underground und Improvisation. Alternative Musik und Kunst nach 1968“, die am Mittwoch in der Akademie der Künste ihre Pforten für ein zahlreich erschienenes Publikum öffnete. Markus Müller, einer der Kuratoren, spricht von einer Verweildauer von zweieinhalb Stunden, sein Kollege Daniel Muzyczuk veranschlagt drei Stunden, um hinzuzufügen: „Sie können aber auch gerne drei Tage bleiben.“
Übertrieben ist das nicht, besteht „Underground und Improvisation“ im Grunde aus zwei Ausstellungen. Muzyczuk verantwortet als Kurator mit David Crowley den Teil „Notes from the Underground – Art and Alternative Music in Eastern Europe 1968–1994“. Dieser Part lief im Herbst und Winter am Muzeum Sztuki im polnischen Łódź. Müllers Schau „Free Music Production/FMP: The Living Music“ konnte 2017 im Münchner Haus der Kunst besichtigt werden. Julian Weber berichtete damals davon und wies etwa auf die Verbindungen zwischen dem Westberliner Freejazz-Label FMP und der Jazzszene der DDR hin.
Das ist schon mal ein Erzählungsstrang, der zur Antwort auf die Frage gehört, wie eigentlich diese Berliner Präsentation nun zusammenpasst: die Geschichte des vielleicht „wichtigsten Beitrages West-Berlins zur Kunsthistorie“, wie Markus Müller über FMP sagt, die aber die Geschichte eben eines Plattenlabels ist; und die verschlungenen Stories des osteuropäischen Undergrounds, der so wenig monolithisch war wie der Ostblock selbst, verteilt auf ein knappes halbes Dutzend Länder und Szenen, die weit über Jazz und E-Musik hinausgingen.
Überhaupt Underground: Die Ausstellung beginnt mit dem der damaligen Tschechoslowakei. 1968 als Beginn ist gut gewählt: Im Westen der politische Aufbruch, zu dem auch neue künstlerisch-musikalische Formen und Sprachen wie die von FMP gehörten, in Prag die Panzer des Warschauer Pakts, eben einen verschwisterten Ansatz unter sich begrabend. Kurz nach der Niederschlagung des Prager Frühlings hatten sich in der tschechischen Hauptstadt die Plastic People of the Universe gegründet. Der Psychedelic-Rock-Band und ihren Vorläufern Aktual gehört der erste Ausstellungsraum.
Nicht von ungefähr, Aktual musizierten, als es den Begriff Industrial noch nicht gab, bereits mit Sirenen, Bohrern und einem Motorrad. In ihren Texten karikierten sie lustvoll den Jargon offizieller Verlautbarungen, indem sie ihn ins Aberwitzige trieben. Underground, in der Tat!
Direkt neben den tschechoslowakischen Exponaten dann aber die aus Polen, wo sich der Staat zu einem wesentlich elastischeren Umgang mit den Subkulturen durchringen konnte. Dahinter die DDR, deren Funktionäre dazu nicht willens waren, während die ostdeutschen Freejazzer durchaus prestigebringend auf FMP veröffentlichen konnten. Fred van Hove, Pianist auf „Machine Gun“, dem bahnbrechenden 68er-Album des Peter Brötzmann Oktetts, soll von Ostdeutschland als idealem Terrain für improvisierte Musik gesprochen haben. Die präsentierten Kassetten der Karl-Marx-Städter Bands um AG Geige oder der Ostberliner Ornament & Verbrechen kursierten derweil unter der Hand.
Jetzt liegen sie unter Glas, mit Manuskripten und Typoskripten, vor grafischen Notationen, Gemälden, Fotos, Videos und rarem Archivmaterial. Der Befürchtung, Underground werde so musealisiert, ließe sich entgegenhalten, dass er gerade so in der Diversität und Sperrigkeit seines Materials greifbar gemacht wird. Den Abend beschloss übrigens Wladimir Tarassow mit einem Kurzkonzert. Mittlerweile ein Grauschopf, humpelte er auf die Bühne. Es klang so, als hätte er seit seinem 1989er Film einfach weitergetrommelt und dabei die eine oder andere Finesse hinzugelernt.
„Underground und Improvisation. Alternative Musik nach 1968“, Akademie der Künste, Hanseatenweg, bis 6. Mai
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