Auszug aus „Wir sind der Verein“: Nach dem HSV kommt die Liebe
Als der Hamburger SV seine Profiabteilung ausgliederte, gründete sich der HFC Falke: ein von Fans geführter Verein im Ligabetrieb.
Der Ball fliegt mit Wucht über die Seitenlinie. Ein dumpfer Sound, und er prallt in eine kleine Gruppe von Fans, die am Geländer zusammensteht, den Blick aufs Spielfeld, das Gesprächsthema irgendwo anders, bei Hannover 96. Bier spritzt aus den Bechern über Gesichter und Trikots. „Nach dem Spiel gibst du uns einen aus“, brüllt einer aus der Gruppe in Richtung Spielfeld. Er kriegt seine Lacher, der Spieler trabt verschüchtert zurück zur Mittellinie. Der Ball trudelt unkontrolliert irgendwo hinters Geländer, und irgendwer geht neues Bier holen, der Kick und das Leben gehen weiter. Ja, das hier ist ganz unten, fast zumindest, Hamburger Bezirksliga Nord. Die Gruppe, die in Alltagsklamotten am Zaun steht und dem Wind trotzt, schaut auf einen Sportplatz, der an die eigenen Jugendspiele erinnert. Ein Amateursportplatz-Allerweltsgelände, ein Platz mit selbst gezogenen Kreidelinien und schlecht layouteten Werbebannern der benachbarten Autowerkstätten am Gitter, ein Vereinsheim mit Bierbude, danach geht die Siedlung weiter. Ein paar Meter hinter dem Sportplatz kann man unter Bäumen durch Nebenstraßen spazieren und nicht mitbekommen, dass nebenan gerade 300 Menschen ein Fußballspiel besuchen. Denn 300 sind an diesem Sonntagmorgen gekommen, zu einem Siebtligaspiel. Sie sind gekommen mit dem Trauma einer enttäuschten Liebe und dem Traum, dass es so etwas wie neue Lieben und zweite Chancen gibt. Sie wollen für etwas kämpfen, nicht gegen etwas.
Zu lesen Unsere taz-Kollegin Alina Schwermer hat ein Buch vorgelegt: „Wir sind der Verein“. Schwermer erzählt neun Geschichten über Fußballklubs, die von ihren Anhängern geführt werden. Von Austria Salzburg, wo die Fans sich nicht der Übernahme durch den Brausekonzern beugen, von Beitar Nordia in Israel, wo die Beitar-Jerusalem-Anhänger den Rassismus vieler Fans nicht mehr ertragen, oder von Fortuna Köln, wo die Supporter den bisherigen Klub übernommen haben.
Zu hören Alina Schwermer stellt ihr Buch vor am Dienstag, 6. März, 19 Uhr, im taz-Café, Berlin-Kreuzberg, Rudi-Dutschke-Str. 23. Weitere Termine: 15. März, 19 Uhr, bei Roter Stern Leipzig, Wolfgang-Heinze-Str. 22, Leipzig-Connewitz; 12. April, 20 Uhr, bei Gesellschaftsspiele e. V., Baiz, Schönhauser Allee 26a, Berlin-Prenzlauer Berg.
Zu kaufen Alina Schwermer: „Wir sind der Verein. Wie fangeführte Klubs den Fußball verändern wollen.“ Verlag Die Werkstatt: Göttingen 2018, 224 Seiten, 16,90 Euro.
Es ist August 2017, der zweite Spieltag der neuen Saison in der Hamburger Bezirksliga Nord. Der Fanverein HFC Falke spielt auswärts gegen den SV Uhlenhorst. Hamburger Bezirksliga, Siebte Liga, das hier ist der FKK-Strand unter den Fußballligen: Hier gibt es keine Geheimnisse. Jedes Wort auf dem Spielfeld trägt über den ganzen Platz, jedes Wort aus der Kurve trägt zu den Spielern, man sollte wissen, was man sagt: Hinterher sieht man sich am Vereinsheim wieder. Die Jungs in der Kurve, die sich für die Sprüche zuständig fühlen und eine große Klappe haben, prollen also mit angezogener Handbremse: „Arschloch, Wichser, Hurensohn“ gibt es nicht in Uhlenhorst. Sie schreien also „Mach nicht den Timo Werner“, oder „Schiri, du hast doch schon ’ne Brille“, so auf dem Niveau. Ein bisschen frech, ein bisschen höflich. Wieder fliegt der Ball in die Gruppe, knapp am Bier vorbei. Sie lachen. Der Gegner SV Uhlenhorst-Adler ist offenkundig überfordert mit der Anwesenheit von Fans. Für die Freizeitkicker ist es eine Stresssituation, nur der dickbäuchige Schiri, den das alles nicht anficht, signalisiert Einwurf, Einwurf für den HFC Falke. Falke ist besser, sie hoffen auf einen Auswärtssieg. Völlig egal natürlich eigentlich, ob auswärts oder nicht. In der Bezirksliga fährt man nach auswärts mit der Straßenbahn. Ein scharfer Wind erinnert daran, dass das hier Hamburg ist, auch bei Sonnenschein im August. Später wird es regnen. Der Sportplatz des SV Uhlenhorst, der in einem gutbürgerlichen Viertel liegt, ist so weit weg von Bundesliga, dass er keine Illusionen lässt. Eigentlich, sagt jedes Gefühl, würden hier vielleicht fünf Leute am Geländer stehen. Die 300 Menschen in blauen Fan-Accessoires wirken ein wenig surreal.
Tamara Dwenger, übers Geländer gebeugt, sammelt ihre Emotionen. Die Präsidentin und Mitgründerin des HFC Falke hatte vorher angekündigt, dass sie aufs Spielfeld gucken werde, während sie das Interview gibt, mehr eine Feststellung als ein Angebot. Ist halt so.
Das neue Leben des HFC Falke und die Wanderung in die Welt der krummen Linien und schlechten Werbeplakate fängt mit einem Tag im Mai an. Am legendär schwarzen 25. Mai 2014, der sie nicht loslässt. Rund 10.000 Menschen marschieren damals ins Stadion des Hamburger SV, um über die Zukunft des Vereins abzustimmen. Auch Tamara Dwenger geht hin. Aber sie kommt mit dem Gefühl, eigentlich schon verloren zu haben. Die Lage im Verein ist chaotisch, die Stimmung gereizt, der Klub steht mit dem Rücken zu Wand. Der HSV ist einer der wenigen Klubs in der deutschen Bundesliga, die zu dieser Zeit noch als eingetragener Verein ins Rennen gehen. Aber er hat die bis dato schlechteste Spielzeit der Vereinsgeschichte hinter sich. Sie sind dem Abstieg knapp entgangen, nie wieder, nie wieder Abstiegskampf, das ist die Sehnsucht. Zurück ins europäische Geschäft soll es gehen. Aber mit welchem Geld? Eine einfache Neuerung soll frische Mittel bringen. Das Modell: „HSV Plus“. Die Ausgliederung der Profiabteilung. 87 Prozent der Mitglieder wollen an diesem Tag im Mai „HSV Plus“.
Dwenger verlässt an diesem Tag das Stadion, ohne das Ergebnis abzuwarten. Bei ihr ist Philipp Markhardt, HSV-Ultra und Promi-Fan. Markhardt, Kommerzialisierungsgegner und langjähriger Sprecher des Bündnisses Pro Fans, ist gern gesehener Gast in Talkrunden mit seinen markigen Thesen gegen Kommerz und den DFB. Auch Markhardt ist heute Präsidiumsmitglied bei Falke.
Sie ziehen in ihre Stammkneipe, Dwenger und Markhardt und ein paar Mitstreiter. Sie ertränken den Frust in Ouzo und fantasieren über Alternativen. „Falke ist eine Kopfgeburt gewesen“, sagt Dwenger. „Wir saßen damals zusammen, und dann tauchte die Frage auf: Was machen wir denn jetzt? Gründen wir halt einen eigenen Verein.“„Erst mal war die Frage: Finden wir es auch noch gut, das zu machen, wenn wir wieder nüchtern sind?“, wirft Markhardt ein. „Zwei, drei Tage später konnten wir dann darüber befinden.“ Und am 19. Juni 2014, diesmal nüchtern, gründen sie den HFC Falke, dessen Name sich zusammensetzt aus dem HFC und Falke 06, zwei Vorläuferklubs des HSV. Das Motto stammt vom dritten Vorläuferverein, Germania: „Dankbar rückwärts, mutig vorwärts.“ Wie erfunden für einen Fanverein, der freiwillig in den tiefsten Amateurfußball geht, weil ihm das als Fortschritt erscheint.
Der Fanverein der Enttäuschten und Entfremdeten Hamburger Fans ist ein Pflänzchen von Sturköpfen. Sie wollen alles richtig machen, hundert Prozent anständig und idealistisch, und ja ohne Kommerz. Ist das weltfremd? Geht das gut? Kommt das an? Der HFC Falke, der geboren ist auch aus Trotz, ist nicht auf der Suche nach Mitgliedern. Hierher soll kommen, wer es gut findet; wer nicht, der eben nicht.
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Heute zahlen rund 400 Mitglieder ihren Beitrag, zwischen fünf und zwanzig Euro je nach Wunsch und Portemonnaie. Und die Frau, die endlich etwas tun wollte, woran sie glaubte, ist Präsidentin eines Siebtligisten mit Ambition nach oben. Das langfristige Ziel ist die Oberliga. „Falke ist, gerade in dieser emotionalen Tiefphase mit dem HSV, einfach so da gewesen“, sagt Tamara Dwenger. „Ich habe nie darüber nachgedacht. Wir haben gesagt, wir machen das. Und dann kannst du ein halbes Jahr später nicht mehr Nein sagen.“
Noch ist der HFC Falke nicht alt genug, um sagen zu können, ob das auf Dauer funktioniert. Stimmen von außen, die zweifeln, gibt es, wie immer. Tamara Dwenger nimmt das mit einem gewissen Sarkasmus: All die Leute, die bei jeder Krise sofort erklärten, sie hätten es doch gleich gewusst. „Fanvereine können den Fußball besser machen“, sagt sie sehr bestimmt. Auch sie wollen das für sich nutzen, was die zweite oder vielleicht dritte Welle von Fanvereinen lernen kann: die Erfahrung des Scheiterns. „Wir haben den Vor- oder Nachteil, dass es schon ein paar andere Vereine gab, die das vor uns gemacht haben. Man kann da schon hingucken und überlegen, warum gewisse Dinge nicht funktioniert haben.“ Vor allem die Sache mit der Basis. 20 bis 25 Prozent, schätzt Tamara Dwenger, zählten zum harten Kern der Aktiven beim HFC Falke. Eine Quote, die höher ist als bei anderen Fanvereinen. Ein bemerkenswertes Engagement. „Man muss den Leuten immer wieder mitteilen: Es funktioniert nicht ohne euch.“ Sie tut das auf ihre direkte, pragmatische Weise. Wer was machen will, soll was vorschlagen, und dann passt es schon. Wer nichts machen will, soll auch nicht meckern. Und hinterherlaufen muss sie den Leuten sowieso. Sie nennt Falke ihren zweiten Job, neben den 60 bis 80 Stunden, die sie in ihren Hauptberuf investiert. Sie hat nicht damit gerechnet, dass es so viel Arbeit sein würde, aber sie findet es in Ordnung. Ihr Freund sagt dann manchmal: „Ich würde auch gern wieder eine Freundin zu Hause haben.“ Sie lässt den Kommentar am Rande des Platzes so stehen, so ist es eben; Sie weiß, dass sie hier nicht fehlen darf. Einmal, in der ersten Saison, findet sich niemand, der den Merch-Stand machen will. „Da haben wir nicht lange rumlamentiert, dann bleibt das Ding halt zu. Und auf einmal gab es dann doch zwei Leute, die es machen wollten.“ Jetzt hat sich ein Team gebildet, das den Stand regelmäßig organisiert. Der HFC Falke findet seine Lösungen.
In der Hinrunde 2017/18 steht der HFC Falke gut da in der Bezirksliga Nord, und es ist ja weiter nur Bezirksliga. Alles deutet darauf hin, dass der Weg weiter nach oben geht. Auch der HFC Falke braucht, bei allen Träumen und Sozialprojekten, ein bisschen sportlichen Erfolg. In der letzten Saison hat die Zuschauerzahl stagniert; im ersten Jahr hatten sie manchmal doppelt so viel Publikum wie jetzt.
„Für mich ist das Wichtigste, dass der Verein unabhängig bleibt“, sagt Dwenger. „Wir wollen hier immer jemanden haben, der weiß, wo dieser Verein herkommt. Auch in hundert Jahren noch.“
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