Auf der Jagd nach Borstentieren: Wildschweine sind zum Schießen
Unter Landwirten geht die Furcht vor der Afrikanischen Schweinepest um. Abschießen, so lautet die Forderung. Das ist leichter gesagt als getan.
Kessel, so nennen Jäger so ein Wildschweinwohnzimmer, in dem die Tiere einer Rotte den Tag verbringen. Geschützt von Brombeergebüsch oder zwischen eng stehenden Fichten finden Frank, Andreas und die anderen Treiber etliche dieser alten und neuen Kessel an diesem Januarmorgen in einem Wald nordöstlich von Berlin. Alle sind verlassen. Die Pfade der Tiere führen zu matschigen Suhlen, zu Fichten und Eichen, an deren Borke sich die Schweine so häufig gescheuert haben, dass das darunterliegende Holz glänzt. Die Wege der Wildschweine verraten, dass sie manche Plätze regelmäßig durchstöbern, den Boden dort immer wieder mit der Nase nach Käferlarven, Regenwürmern, Wühlmäusen, Eicheln, Bucheckern durchwühlend.
Rund eine Million Wildschweine leben mit Beginn eines jeden Winters in Deutschland, so genau kann das niemand sagen, denn Wildschweine lassen sich nicht zählen. Bis zum Beginn der Schonzeit für Bachen, also die weiblichen Schweine, am 1. Februar schießen Jäger zwischen 500.000 und 700.000 Tiere jeden Alters und Geschlechts. Die Überlebenden vermehren sich im Laufe des Jahres wieder. Mit Beginn der neuen Jagdsaison im Herbst streifen deshalb wieder mindestens eine Million Wildschweine vom Frischling bis zur Leitbache und dem alten Eber durch die Wälder.
Die Gefahr aus dem Osten
Landwirte ärgern sich beständig und seit ewigen Zeiten über die Sauen. Sie durchpflügen Äcker und Wiesen und wohnen im Frühjahr erst im Raps und ziehen dann ab Juni in den Mais. Der schmeckt selbst den Allesfressern nicht, doch trampeln sie Pflanzen herunter und leben inmitten der Maisstängel wie hinter den Palisaden eines Forts.
Mehr Jäger: Die Zahl der Jäger ist in Deutschland auf ein neues Rekordhoch gestiegen – auf aktuell 384.000. Seit der Wiedervereinigung stieg die Jägerschaft nach Zahlen des Deutschen Jagdverbands fast um ein Viertel (23,3 Prozent). Die meisten Jagdscheininhaber kommen zwar mit 91.000 aus Nordrhein-Westfalen. Pro Kopf gerechnet leben die meisten Jäger aber in dünner besiedelten Bundesländern in Nord- und Ostdeutschland.
Weniger Abschüsse: Die Abschusszahlen sanken dagegen leicht. In der vergangenen Jagdsaison 2016/17 erlegten Jäger 2,635 Millionen Tiere aus Schalen- und Raubwildbeständen, also unter anderem Wildschweine, Rehe, Füchse und Waschbären. Das sind 18.000 Tiere weniger als in der Vorsaison. Im langjährigen Mittel steigen die Abschusszahlen aber, wie der Deutsche Jagdverband in Berlin mitteilte. Vor allem bei Wildschweinen ist wegen der drohenden Afrikanischen Schweinepest und des aktuell milden Winters wieder mit steigenden Abschusszahlen zu rechnen. Die Jagdstrecke sank zuletzt um 20.000 auf rund 590.000 Tiere. (dpa, taz)
Doch nun wächst aus dem Ärger über die Wildschweine die nackte Panik. Die Afrikanische Schweinepest (ASP) droht über Estland, Lettland, Polen und Tschechien nach Deutschland zu gelangen (siehe Text rechts). Es ist nur eine Frage der Zeit, wann das erste Schwein mit ASP in Deutschland gefunden wird.
Die Wildschweine aber stehen im Verdacht, achtlos von Lastwagenfahrern und Wanderarbeitern aus den osteuropäischen Seuchengebieten weggeworfene Rohwürste und Schinken zu fressen und die darin enthaltenen ASP-Viren so ins Land zu tragen. Der Bauernverband fordert daher die Tötung von 70 Prozent aller Wildschweine. Nicht nur im Winter, sondern ständig.
Den ganzen kalten Morgen haben die Treiber kein Schwein gesehen. „Das ist Jagd“, sagt Andreas, legt die Hand auf den Knauf der Saufeder in der Lederscheide, die vor seinem rechten Oberschenkel vom Gürtel hängt, ein Messer, so lang wie sein Unterarm, scharf wie eine Rasierklinge. Wenn ein Schwein angeschossen ist und er nicht noch mal schießen kann, weil die Hunde herumspringen, würde er das Tier mit dem Messer erlösen. So weit kommt es heute nicht.
Auf den Hochsitzen warten die Schützen
„Das sind hochintelligente Tiere“, sagt Frank Potröck, kräuselt den Mund anerkennend und nickt. „Zehnmal rausgehen, einmal Erfolg“, sagt er und meint damit, dass er zehnmal auf dem Hochsitz sitzen kann und dabei nur einmal ein Tier so sicher sieht, dass er es auch schießen kann. Vielleicht sieht er auch am zehnten Tag kein Schwein und kein Reh. „Da habe ich Zeit, einfach einmal in die Natur rein zu hören“, sagt Potröck. Als Kind ist er mit zur Jagd gegangen, war sein Leben lang bei Treib- und Drückjagden dabei und hat vor vier Jahren seinen Jagdschein gemacht, eigentlich weil sein erwachsener Sohn Berufsjäger wurde. „Wenn ich rausgehe, lasse ich meine Erwartungen zu Hause und gucke, was kommt“, sagt Potröck. Manchmal kommt ein Specht.
Potröck leitet die Gruppe aus einem Jäger, einer Jägerin, drei Treibern ohne Jagdausbildung und drei Stöberhunden durch einen Abschnitt der Wälder von Mathias von Schwerin, der heute zur gemeinsamen Jagd eingeladen hat. Während Potröck und seine Leute mit den Hunden die Wildschweine, Hirsche und Rehe dazu bringen, ihren Ruheplatz zu verlassen, warten fünf Schützen und Schützinnen auf Hochsitzen auf die Tiere. Sechs Teams aus TreiberInnen und SchützInnen sind an diesem Morgen in verschiedenen Waldabschnitten zu Gange, ihre orangefarbenen Anoraks, Mützen, Overalls und Westen leuchten von Weitem durch das fahle Licht des Winterwaldes.
„Ich bitte alle Jäger, beherzt zu schießen“, fordert Mathias von Schwerin im Morgengrauen die rund 60 Frauen und Männer auf, die auf seinem Hof nordöstlich von Berlin am Feuer stehen. Er gibt alle jagdbaren Tiere frei, die die Schützen wirklich verwerten wollen. Also hauptsächlich Rot- und Damhirsche, Rehe und Wildschweine. „Füchse sind zu schonen!“, steht auf dem Freigabezettel, den Schwerin für die Jagd in seinen Wäldern an diesem Tag ausgegeben hat. Er ist Vorsitzender des Ökologischen Jagdvereins Brandenburg, der grundsätzlich nur die Jagd auf Tiere befürwortet, wenn das „erlegte Wild einer sinnvollen Nutzung zugeführt“ wird. Die Öko-Jäger gehen auch nicht auf Trophäenjagd, schießen also einen Hirsch nicht wegen seines Geweihs.
Zu viele Rehe lassen keinen Mischwald wachsen
1.000 Hektar Forstflächen besitzt Schwerin in Brandenburg. Daraus will er einen Wald machen, die Monokulturen von Kiefer und Fichte ohne Unterholz zu einem artenreichen Mischwald entwickeln, mit Eichen, Buchen, Ahorn, Lärchen, und was sich sonst von Natur aus ansiedelt. Junge Bäume haben nur dann eine Chance, wenn sie ausreichend Licht erhalten – und nicht als zarter grüner Leckerbissen von einem Reh gefressen werden. Da Rehe nördlich von Berlin außer Autos und Jägern selten einen nennenswerten Feind haben, liegen sie im Wald dicht an dicht. Und fressen, was ihnen gerade schmeckt, die zarten Triebe junger Bäume zuerst. Die Naturverjüngung landet im Rehpansen.
Frank Potröck, Jäger
Schwerin hat daher in den vergangenen Jahren selbst geschossen. Und er veranstaltet mehrere Bewegungsjagden im Jahr. Wildbiologen sagen, dass Rehe, Hirsche, Wildschweine und die anderen Beutetiere einen solchen eintägigen Megastress besser verkraften, als wenn sie ständig damit rechnen müssen, auf einen Jäger zu treffen. Und Jagd- und Waldbesitzer wie Schwerin haben mit Unterstützung vieler Jäger die Chance, die hohen Wilddichten zu mindern.
„Ein PR-Gag“, meint der Jäger
Endlich knallt es im Wald. Ein Schuss. Noch ein Schuss zerteilt die eisige Ruhe. Noch einer. Frank Potröck, Andreas und die anderen halten inne. Lauschen in den Wald. Ein Bussard ruft über dem Feld. Schweigend gehen die Treiber weiter.
Wie die Jäger ständig die Zahl der Wildschweine um die 300.000 Tiere halten sollen, hat der Präsident des Bauernverbandes nicht gesagt. „Eine blanke populistische Forderung“, nennt das der Bundesverband der rund 1.000 Berufsjäger in Deutschland. Auch in der Wissenschaft nimmt niemand die Forderung der Bauernlobby ernst. „Ein PR-Gag“, findet Ulf Hohmann, Leiter der Forschungsgruppe Wildökologie der Landesforsten Rheinland-Pfalz. Er forscht seit Jahrzehnten zum Wildschwein und hält es für unwahrscheinlich, dass die hohen Bestände durch die Jagd dauerhaft verringert werden können.
Dem stimmen traditionelle Jäger und Öko-Jäger zu. Doch Hohmanns Erkenntnisse teilt die Jägerschaft in zwei Lager, die sich in Foren, Leserbriefen der Jagdzeitschriften und auf Veranstaltungen bekämpfen. Einig sind sich die Jäger aller Lager mit den Wildbiologen und Ökologen darüber, dass zu viele Wildschweine durch weite Teile Deutschlands wühlen. Einig sind sie sich auch, dass zu viele Mais- und Rapsäcker den Wildschweinen beste Lebensbedingungen bieten.
Der Streit unter den Jägern beginnt bei der Kirrung: ob also die von Jägern ausgelegten Futtermaiskolben im Wald die Schweine durch den Winter bringen und die Jäger so die natürliche Sterberate in der kalten Jahreszeit verhindern. Ulf Hohmann hat nachgewiesen, dass die Kirrung in manchen Wäldern einer Fütterung gleicht, die Wildschweine also im Wald gemästet werden. Richtig los geht der Revierkampf unter den Jägern jedoch, wenn es um die biologische Ursache der Wildschweinvermehrung geht und – um die richtige Jagdmethode.
Schießen die Jäger die falschen Wildschweine ab?
Die Mehrheit der traditionellen Jägerschaft schießt vor allem junge Wildschweine und niemals die Leitbache. So nennt man das weibliche Tier, das im Matriarchat der Schweine den Familienverbund anführt. Ihre Führungsfunktion ist unbestritten. Jäger haben aus ihr jedoch eine heilige Sau gemacht, ein Schwein mit Mutterkreuz. Seit den 1970er Jahren hat sich in Deutschland die These unter den Jägern verbreitet, dass die Leitbache die Fortpflanzungsfähigkeit der jungen weiblichen Tiere in ihrer Familienrotte unterdrückt. Deutsche Jäger schießen deswegen Frischlinge und junge Schweine und glauben, damit wirksam in die Vermehrung einzugreifen. Sie glauben, wenn die Leitbache fehle, setze erst recht das wilde Rammeln und Begatten ein, weshalb dann noch mehr Wildschweine durch den Wald laufen.
Diese These ist nicht bewiesen. Und sie gilt nur in Deutschland, wie Ulf Hohmann nach Sichtung der wissenschaftlichen Literatur zum Wildschwein herausgefunden hat. Keine spanische, polnische, österreichische oder italienische Leitbache unterdrückt die Empfängnisbereitschaft ihrer Töchter in der Rotte. Die europäischen Schweine machen das, was auch deutsche Leitbachen machen: Sie synchronisieren die Rausche genannte Empfängnisbereitschaft der weiblichen Tiere. Alle Weibchen einer Rotte werden deshalb zur selben Zeit rauschig, besamt, trächtig und werfen auch zur selben Zeit. Das erhöht die Überlebenschance der Frischlinge.
Das „Leitbachen-Paradigma“ nennt Zoologe Ulf Hohmann den deutschen Mythos um das Führungsschwein. Er vermutet, dass die Idee seit dem 17. Jahrhundert herumgeistert und sich dann verselbstständigt hat. Gesichert ist, dass Biologen und Verhaltensforscher aus der DDR die Leitbachen-These kultiviert haben. Der Schwarzwild-Papst der DDR, Heinz Meynhardt, brachte sie auch in Westdeutschland unter die Jäger. „Ein sehr bequemes und den Jägern entgegenkommendes Paradigma“, sagt Hohmann. Denn je mehr Tiere, desto eher sehen Jäger mal eins und können schießen.
„In der hehren Absicht, die Schweinepopulation zu begrenzen, machen die Jäger das genaue Gegenteil.“ Sie vermehren die Wildschweine. Hohmann hat ausgerechnet, dass statistisch eine erfahrene Bache 5,32 Jungtiere im Jahr aufzieht, eine Frischlingsbache jedoch nur 1,1 Nachkommen durchbringt. Er hat daher schon 2010 empfohlen, dass die Bundesländer ihre Jagdrichtlinien überarbeiten. In Rheinland-Pfalz, Brandenburg und fünf weiteren Bundesländern sind die Leitbachen zum Abschuss freigegeben.
„Ich sitze fünfmal und sehe viermal nix“
„Der klassische Jäger ist Pächter, dem ist der Zustand des Waldes egal“, sagt Mathias von Schwerin, schaut vom offenen Hochsitz durch den im Januar entlaubten Wald und ist zufrieden. Spätestens im Juni sind Büsche und junge Bäume so dicht, dass er von hier oben kein Tier mehr sieht. Doch auch in den Monaten mit wenig Laub und Schonzeiten bleibt er tierisch allein. „Ich sitze fünfmal und sehe viermal nix“, sagt er. Das und die jungen Bäume sprechen dafür, dass zumindest in Schwerins Wald die Rehe, Hirsche und Bäume ökologisch auskömmlich zusammenleben. Die Rehe seien heute zwei Kilo schwerer als vor zehn Jahren, erzählt Schwerin, der das Fleisch über einen Wildhändler vermarktet und natürlich auch selbst isst. Zwölf Rehe werden am Abend der Gemeinschaftsjagd von 60 Menschen und zehn Hunden im Kühlhaus hängen. Ein Damhirsch. 27 Wildschweine, alle weiblichen Sauen mit fünf, sechs Tieren trächtig.
Es knackt und raschelt auf dem Boden hinter dem Hochsitz. Schwerin fährt herum. Hündin Hummel springt über Äste. Schwerin schaut wieder in die Rückegasse und legt die Hände in den Schoß. Da trippelt ein Wildschwein rechts von ihm über den Weg, verschwindet im Gebüsch. Schwerin springt auf. Greift das Gewehr, legt an, das Wildschwein trabt zwischen den Kiefernstämmen rechts hinterm Hochsitz, Schwerin verfolgt die Richtung, das Auge am Zielfernrohr, den Finger am Abzug. „Kein Kugelfang“, sagt Schwerin und lässt die Waffe sinken. Bei einem Schuss würde die Kugel sich aus dieser Position nicht im Boden fangen, wenn sie durchs Wildschwein schlägt oder er das Tier verfehlt. Schwein gehabt.
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