: Wale, Gletscher und Geysire
Island wandelt sich zunehmend vom Felsen der Walschlächter zum Paradies der Whalewatcher. Doch der wachsende Urlauberstrom bedroht mit touristischen Perversionen die Umwelt. Die Sehnsucht der Stadtmenschen vom Kontinent nach unberührter Natur wird für diese zum Problem
Von Sven-Michael Veit
Und dann kommt der Schatten aus der Tiefe, er nimmt Konturen an im klaren Wasser des Nordatlantiks, das an diesem sonnigen und windstillen Tag fast durchsichtig wirkt. Gemächlich schwimmt der Buckelwal schräg vor unserem Boot vorbei. Ein paar Kameras klicken, sonst ist es ruhig, der Motor ist abgestellt, niemand redet, alle schauen fasziniert hinunter. Vielleicht acht Meter lang ist der Wal, noch nicht ausgewachsen, gleichwohl imposant, wie er geräuschlos am Bug vorbeigleitet. 100 Meter entfernt steigt ein Blas in die Luft, kurz darauf erhebt sich eine Fluke, eine Schwanzflosse, langsam in die Höhe und verschwindet dann in der Tiefe.
Fünf junge Buckelwale schwimmen hier geruhsam im Eyjafjördur, dem rund 60 Kilometer langen Fjord vor Akureyri, mit 18.000 Einwohnern die mit Abstand größte Siedlung im Norden Islands. In dem tiefen und fischreichen Meeresarm jagen die jungen Bullen im Team nach Krill und Heringen, scheinbar unbeeindruckt von Menschen und Booten. Offenbar wissen sie inzwischen, dass sie sicher sind, dass ihnen hier keine Gefahr droht, obwohl sie vor Island schwimmen.
Die Insel im Nordmeer entwickelt sich vom Felsen der Walschlächter zum Paradies der Whalewatcher. Vor Akureyri, in der weiten Bucht vor der Hauptstadt Reykjavik, vor der Halbinsel Snaefellsness im Westen und vor allem vor Husavik im Nordosten sind Orcas, Pott- und Buckelwale immer häufiger und in immer größeren Rudeln zu beobachten, Schweinswale und Delphine, Zwerg- und Minkwale sind nahezu alltäglich, zeitweilig kommen selbst die riesigen Finn- und Blauwale bis kurz vor die felsigen Küsten.
„Meet us, don't eat us“
„Whale Watching Capital of Europe“ nennt sich Husavik, das 2.500 Einwohner zählende Fischerdörfchen zwischen 1.000 Meter hohen, selbst im Juli noch schneebedeckten Bergen. Seit vielen Jahren ist hier kein Boot mit Harpunen mehr ausgelaufen, nur noch mit Kameras. Etwa 50.000 Touristen fahren allein aus Husavik Jahr für Jahr raus auf den Atlantik zum Schauen und Staunen.
Nur noch ein Drittel der Isländer befürwortet nach einer aktuellen Meinungsumfrage den Walfang, nur noch ein einziges Unternehmen auf der Insel betreibt dieses blutige Handwerk, nur noch ein kleiner Teil der von der Regierung festgelegten Fangquote wird ausgeschöpft: 2017 hätten 224 Zwergwale getötet werden dürfen, tatsächlich waren es 17, berichtet die Tierschutzorganisation International Fund for Animal Welfare (IFAW).
Von den Speisekarten der Restaurants ist Walfleisch fast völlig verschwunden, mehr als 90 Prozent des Fangs wird nach Japan exportiert. Vor allem Touristen essen erstens kein Walfleisch mehr und zweitens beschimpfen sie zunehmend Koch und Kellner zunächst live am Tisch und hinterher auch in Restaurantbewertungen im Netz. Den Hauptgrund dafür sieht der IFAW in einer 2015 gestarteten Kampagne des Whalewatching-Vereins „Icewhale“ in Touristenzentren: „Meet us, don't eat us“ sei ein großer Erfolg.
Stellt der zunehmende Tourismus für die Meeressäuger unzweifelhaft einen Zuwachs an Lebensqualität dar, so sehen immer mehr Isländer den Boom inzwischen kritisch. Im Jahr 2001 kamen gerade mal 300.000 Besucher nach Island, etwa so viele, wie die Insel Einwohner hat. 2015 waren es 1,3 Millionen, in diesem Jahr werden mehr als zwei Millionen Urlauber erwartet. „Wir sehen Zeichen, dass die Toleranz gegenüber den Touristen abnimmt, vor allem in den beliebtesten Gegenden“, heißt es beim Verband der Tourismusindustrie.
Tausende am Tag
31 Prozent aller Deviseneinkünfte erwirtschaftete der Tourismus 2015 – doppelt so viel wie 2010. Im selben Zeitraum stieg die Zahl der im Tourismus beschäftigten Isländer von rund 15.000 auf über 21.000. Und so wird die Sehnsucht von Stadtmenschen, hauptsächlich aus Deutschland, Großbritannien, Frankreich und den USA, nach unberührter Natur für diese zum ernstlichen Problem.
Hinkommen in der Luft: Flüge zum Internationalen Flughafen Keflavik südwestlich von Reykjavik sind im Sommer täglich möglich von Hamburg aus, mehrere Flüge pro Woche auch von Hannover und Bremen.
Hinkommen auf dem Wasser: Das eigene Auto mitnehmen kann man auf der Fähre Norröna von Hirtshals im Norden Dänemarks mit halbtägigem Stopp in Torshavn auf den Faröer Inseln nach Seydisfjördur im Osten Islands. Das Schiff startet Samstagnachmittag in Hirtshals, erreicht Seydisfjördur Dienstag früh und fährt Mittwochabend bis Samstagfrüh zurück: www.faehren-island.de
Rumkommen: Rundreisen in Gruppen bieten diverse deutsche und isländische Anbieter, ebenso lassen sich mit deren Hilfe individuelle Rundreisen mit dem Mietwagen zusammenstellen.
Durchkommen: Alle Hochlandpisten sind gekennzeichnet mit einem F – für Fjäll (Berg, Gebirge), zum Beispiel ist die Kjölur offiziell die F35. Sie dürfen nur mit Allradwagen befahren werden. Wer dort mit einem privaten oder gemieteten Auto ohne 4WD fährt, verliert den Versicherungsschutz und bekommt im Zweifel von der Polizei ein heftiges Bußgeld aufgebrummt.
Unterkommen: Unterkünfte sind in Island teuer und außerhalb von Reykjavik auch rar. Vorbuchen ist ratsam, auf dem Land sind es bis zum nächsten B&B gerne mal 50 Kilometer.
Whalewatching: Alle Angebote sind zu finden auf www.whaletrips.org, www.guidetoisland.is oder www.gentlegiants.is.
Zwar beschränkt die Masse der Touristen sich auf den Südwesten, auf Reykjavik und den „Golden Circle“ der angeblichen Top-Sehenswürdigkeiten. Auf Tagestouren mit Bussen strömen sie täglich zu Tausenden nach Thingvellir, dem mittelalterlichen Ratsplatz, sie drängeln sich vor dem mächtigen Wasserfall Gullfoss und im benachbarten Thermalgebiet mit den großen Geysiren, und sie genießen das Baden im warmen Wasser der Blauen Lagune. Außerhalb dieses Gebiets jedoch kann man in Island noch ziemlich einsam sein.
Aber auch auf dieser Insel aus Vulkanen und Gletschern unter dem nördlichen Polarkreis sind touristische Perversionen inzwischen Alltag. Monsterjeeps mit zwei Meter hohen Treckerreifen, in die man nur mit ausklappbarer Leiter einsteigen kann, brettern mit Touristen auf immer neuen Pisten über die empfindlichen Lavafelder des Inlands, in denen jede Spur über Jahrzehnte erhalten bleibt und die Erosion fördert. Und sie fahren Besucher auf die Gletscher im Süden, den Langjökull und den Myrdalsjökull vor allem, und hinterlassen im gar nicht mehr so ewigen Eis tiefe, von Auspuffgasen schwarz gefärbte Rinnen: Effektiver kann man kaum vernichten, was man nicht schützen, sondern nur ausbeuten will.
Umweltverträglicher ist es da, mit geländegängigen Linienbussen oder dem Allrad-Mietwagen über die wenigen offiziellen Inlandrouten zu fahren, die Sprengisandur, die Kjölur oder den Landvegur, sämtlich unbefestigte Schotterpisten durch menschenleere Hochebenen. Frühestens Anfang Juni nach der Schneeschmelze werden sie geöffnet, spätestens Mitte September ist dann wieder Schluss, aber auch im Sommer sind sie nur mit Vierrad-Antrieb zu bewältigen, nicht zuletzt wegen der zahlreichen Gletscherflüsse, die es zu durchqueren gilt.
Ein paar wenige Zeltplätze und Campinghütten gibt es unterwegs an Orten, die bei Wanderern besonders beliebt sind. Dazu zählt das Thermalgebiet Hveravellir mit seinen Geysiren, blubbernden Schlammlöchern und stinkenden Schwefelquellen, das 1.200 Meter hoch gelegene Hüttendorf Kerlingarfjöll unterhalb des runden Gletschers Hofsjökull, dessen Eisschild größer als Hamburg ist, der Zeltplatz in der grünen Bergoase Nyidalen oder der Campingplatz in Landmannalaugar, wo die Vulkane aus rotem, grünem und gelbem Ryolithgestein so hübsche Namen wie Brennisteinn tragen.
Hier, in Sichtweite von Europas größtem Gletscher Vatnajökull, mit rund 8.000 Quadratkilometern halb so groß wie Schleswig-Holstein, und nicht weit entfernt von der Hekla, dem unberechenbarsten Vulkan Islands, ist man schon nach wenigen hundert Metern allein im Gelände unterwegs. Fast wie beim Whalewatching vor Akureyri: Acht Touristen sind an Bord, im Wasser fünf Buckel- und drei Schweinswale. Genau so viele Wale wie Touristen – wäre es jeden Tag so, wäre es kein schlechtes Verhältnis.
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